Arbeitssystemgestaltung 4.0 – leistungsfähige IT für kreative Menschen


Verfasser: Kim Bogus, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am REFA-Institut e.V., Dortmund

Industrial Engineering in Zeiten der Industrie 4.0 – Teil 4

Die Industrie 4.0 kann nur durch die Integration des Menschen nachhaltig gestaltet werden. Die Entscheidungs- und Handlungskompetenz des Menschen im Arbeitssystem nimmt in der Industrie 4.0 eine zentrale Rolle ein. Das Industrial Engineering steht hier vor der Herausforderung, den Menschen in vernetzte Systeme zu integrieren und dabei neuste Methoden und Anwendungen zu nutzen.

Die Gestaltung von Arbeitssystemen ist eine der wesentlichen Aufgaben des Industrial Engineering. Die Herausforderung besteht hier in der optimalen Verknüpfung der einzelnen Elemente. Dazu zählen die Personen, die für die Ausführung der Arbeit einzusetzenden Betriebsmittel, Materialien und Informationen sowie die entsprechenden Bedingungen. Sie sind folglich in jedem Unternehmen zu finden und sind die Kernelemente des Arbeitssystems [1].

Betrachtet man die Entwicklungen an den Märkten, so wird deutlich, dass schwankende Absatzzahlen die Anforderungen an flexible und wandlungsfähige Arbeitssysteme wesentlich erhöhen. Nur durch die Wandlungsfähigkeit der Produktion ist es oftmals möglich, kürzer werdenden Produktlebenszyklen, unvorhersehbaren Konjunkturschwankungen oder auch der Saisonalität zu begegnen. Neue Technologien der Digitalisierung und Industrie 4.0 können hierbei helfen, die notwendigen Bedingungen zu schaffen. Für die Gestaltung, Einplanung und Integration solcher Arbeitssysteme ist vor allem der Industrial Engineer zuständig.

Bild 1: Das REFA-Arbeitssystem-Modell [1]

Industrie 4.0 verlangt eine adäquate Einbindung der menschlichen Intelligenz und Kreativität

Eine zentral diskutierte Frage ist zunächst die Relevanz des Menschen in einem produktionsnahen Arbeitssystem. Wird der Mensch zukünftig durch künstliche Intelligenzen ersetzt und verschwindet gänzlich aus der Fabrik von morgen? Die Diskussion ist hierbei nicht neu und wurde zuletzt mit der dritten industriellen Revolution und der Einführung des Computer Integrated Manufacturing (CIM) geführt, das in den 1990er-Jahren fast völlig verschwand. Und auch heute sind sich die Experten sicher, dass die Informations- und Kommunikationstechnologie und die Automatisierung die Fertigungsebene nicht restlos durchdringen kann. Vielmehr wird in der Industrie 4.0 eine adäquate Einbindung der menschlichen Intelligenz, Kreativität und des Einfühlungsvermögens in technische Systeme benötigt. Nur durch eine nachhaltige Integration mit dem Menschen in der zentralen Rolle können Unternehmen den immer kürzeren Produktlebenszyklen, Produkteinführungszeiten und Ansprüchen an flexible Gesamtsysteme gerecht werden [2]. Diese Experteneinschätzung bestätigt eine Studie des Fraunhofer IAO, nach der 96,8 % aller befragten Unternehmen den Menschen in Zukunft für sehr wichtig bzw. wichtig bei der Ausführung der Tätigkeiten in der Produktion sehen [3].

Bild 2: Relevanz der Produktionsarbeit in der Industrie 4.0 [3]

Industrial Engineer verbindet Produktion mit IT-Systemen

Bisherige Arbeitssysteme sind oftmals durch die Integration von Softwaresystemen geprägt. Supply Chain Management (SCM) – Software zur Steuerung der Materialflüsse, Enterprise Resource Planning (ERP) – Software zur Ressourcenplanung und -steuerung oder auch Manufacturing Execution Systems (MES) zur Feinplanung sind nur Beispiele für solche Unterstützungssoftware. Diese Systeme weisen allerdings Defizite bezüglich ihrer Reaktionsfähigkeit auf unvorhergesehene Ereignisse auf, wie etwa der Ausfall einer Maschine, Lieferengpässe oder ähnliche Szenarien. Oftmals sind intransparente Schnittstellen, inkompatible Datenformate oder auch eine undefinierte Prozessdatenerfassung für eine schlechte Datenqualität verantwortlich, die die Leistungsfähigkeit der Systeme beeinträchtigt. Zusätzlich erschweren fehlendes Know-how zu bestehenden Systemen und deren Logiken sowie nicht hinterfragte Parameter- und Steuerungseinstellungen der Anwender oftmals das Verbessern und Anpassen der Systeme auf wechselnde Bedingungen [4].

Die Folge sind beispielsweise instabile Systeme mit stark streuenden Durchlaufzeiten der Aufträge, hohe Umlaufbestände oder mangelnde Transparenz für die Mitarbeiter. Der Industrial Engineer ist hier in der Pflicht, eine systematische Verbindung zwischen dem realen Produktionsumfeld und den hinterlegten IT-Systemen zu schaffen, deren Anpassung adaptiv und intuitiv durch ihn oder dem entsprechenden Personal erfolgen kann. Solche Systeme lassen sich im Rahmen der Industrie 4.0 durch neuartige Sensoren und Aktoren realisieren und erlauben ein echtzeitfähiges Abbild eines Systems – es entstehen sogenannte Cyber-Physische-Systeme (CPS) [5].

Bereits in den vorherigen Artikeln wurde die Bedeutung der CPS im Rahmen der Industrie 4.0 herausgestellt. Die Integration solcher vernetzter Systeme stellt neue Anforderungen an die Gestaltung hinsichtlich der Mensch-Maschine-Schnittstellen. So braucht der Industrial Engineer das Sachverständnis, entscheiden zu können, welche Informationen nutzenbringend an den entsprechenden Stellen benötigt werden. Dadurch werden Verschwendungen, wie etwa die Suche nach den relevanten oder richtigen Informationen, vermieden und der Mitarbeiter kann sich auf die wesentlichen Aspekte seiner Arbeit konzentrieren.

Der Industrial Engineer muss Methoden und Werkzeuge kennen, diese Informationen nicht nur konzentriert, sondern auch in geeigneter Form für den Menschen transparent und nachvollziehbar darzustellen. Entsprechende Beispiele, wie etwa Datenbrillen, wurden im vorhergehenden Artikel vorgestellt. Zudem ist es wichtig, auf eine plattformunabhängige Integration der Daten zu achten, damit keine in sich abgeschlossenen oder redundanten Systeme entstehen [4]. Dabei ist ein CPS nicht als „Konkurrenzsystem“ zu bisherigen Arbeits- oder Produktionssystemen zu sehen, sondern vielmehr als ein durch Entscheidungshilfen angereichertes und effektiveres System. Daher sollte das Industrial Engineering auf ein bestehendes System aufsetzen bzw. bei einer Neugestaltung dessen grundlegende Prinzipien, wie etwa Standards und stabile Prozesse, angewandt werden [6].

Sind diese Rahmenbedingungen geschaffen, gilt es bei der Ausgestaltung des Systems drei wesentliche Elemente zu betrachten: Die virtuelle, digitale Komponente ist mit der physischen Komponente durch einen Vermittler (Sensorik und Aktorik) vernetzt. Der Mensch kommuniziert über eine Benutzerschnittstelle mit der virtuellen Komponente und kann bei Bedarf die physische Komponente unmittelbar manipulieren [4].

Bild 3: Cyber-Physisches Gefüge [4]

In dieser sozio-technischen Konstellation des CPS können neben der Wirtschaftlichkeit und der individuellen nutzergerechten Gestaltung auch verstärkt die Prinzipien der Prävention und Nachhaltigkeit verfolgt werden. Das „frühzeitige Handeln“ durch den Menschen ist ein proaktives Handeln, bevor Qualitätsmängel oder Stillstandszeiten entstehen. Dies kann durch die Vernetzung und Datengenerierung in einem CPS wesentlich verbessert werden. Die vorhersagende Wartung – oder auch Predictive Maintenance – ist hier nur eine Möglichkeit, proaktive Präventionen durchzuführen.

Durch die Erfassung und Auswertung der Maschinendaten können Prognosen über das Ausfallverhalten getroffen werden. Die positiven Effekte können hier z.B. eine verbesserte Beschaffungsplanung für Ersatzteile, die Reduzierung der Produktionsausfälle, oder eine optimierte Wartungsplanung sein [4]. Die Herausforderung für den Industrial Engineer liegt hier im erweiterten Datenmanagement. Wichtig ist nicht nur, wie die Daten final bereitstehen, sondern auch wer diese Daten einsehen kann. Fundiertes Wissen zu Datenverständnis, -vorbereitung, -modellierung, -evaluierung und -bereitstellung sind daher ebenso wichtig wie entsprechende Datenschutz- und Datensicherheitsthemen [7].

Bild 4: Beispiel für Intelligente Instandhaltung [8]

Aber nicht nur im Arbeitssystem direkt, sondern auch in der Planung solcher Systeme kann der Industrial Engineer durch neue Anwendungen profitieren. So kann z.B. ein durchgängiges Engineering mit vernetzter und beschleunigter interdisziplinären Kommunikation die Arbeitssystemgestaltung optimieren. Hier können schon in der Entwicklungsphase eines Produktes mögliche konstruktionsbedingte Auswirkungen auf die Montagetätigkeiten abgeleitet werden und die Informationen in Echtzeit in die Gestaltungstätigkeiten einfließen. Dem Industrial Engineer stehen die benötigten Daten wesentlich schneller und präziser zur Verfügung. Zeitliche Einsparungspotenziale können erschlossen, entsprechende Veränderungen schon im Entwicklungsprozess zeitnah angestoßen werden.

Bild 5: Beispiel für Digitales Engineering [9]

Zukünftig wird also die Arbeitssystemgestaltung noch mehr durch das Arbeitsdatenmangement, insbesondere damit verbundener neuer Methoden, Vorgehensweisen und Anwendungen beeinflusst werden und neben der Ausgestaltung des physischen Arbeitsplatzes eine tragende Rolle einnehmen.Aber auch der Mensch als zunehmend steuernder und entscheidender Akteur im Arbeitssystem muss so integriert werden, dass er in der Lage ist, komplexe und diffuse Situationen zu erfassen, Konflikte vernetzter Maschinen zu lösen und moderne Technologien zu verwenden sowie entsprechende Flexibilitätsanforderungen zu erfüllen [11].

Die Aufgabe des Industrial Engineer ist es, diese Anforderungen zu kennen und frühzeitig die entsprechenden Qualifizierungsbedarfe eines solchen Systems abzuleiten und die Qualifikation der Mitarbeiter dahingehend zu gewährleisten. Nicht zuletzt verändert sich aber auch die Umgebung des Menschen im Arbeitssystem. Flexibilität lässt sich nicht ausschließlich unter den Gesichtspunkten der Produktivität betrachten, sondern ist auch Teil des kulturellen Wandels. Mitarbeiter fordern ebenso Flexibilität und eine Balance zwischen Arbeits- und Lebenszeit sowie herausfordernde Aufgaben und die Chance zur Selbstentfaltung [12].

Die potenziellen Veränderungen können im Unternehmen radikal sein, wenngleich die Anpassungen langsam über mehrere Instanzen hinweg erfolgen. Die Arbeit in einem produktionsnahen Arbeitssystem kann dann auch mit revolutionären Veränderungen einhergehen, wie es sich bereits in den vergangenen industriellen Revolutionsstufen gezeigt hat. Daher ist eine frühzeitige Integration aller Beteiligten wichtig, um sowohl positive Treiber und Multiplikatoren im Unternehmen zu identifizieren als auch Ängste und Hemmnisse der Mitarbeiter zu nehmen. Der Industrial Engineer muss neue Möglichkeiten und deren Vorteile aufzeigen und kommunizieren und dadurch nachhaltig den Weg zur Veränderung angehen.

Das Industrial Engineering ist in der Industrie 4.0 gefordert, neue Methoden und Werkzeuge sowie Technologien und deren Anwendbarkeit zu kennen und mit diesem Wissen bestehende Arbeitssysteme weiter zu entwickeln oder neue Systeme nachhaltig zu gestalten. Der Mensch spielt hierbei eine zentrale Rolle, weshalb Aufgaben innerhalb des Systems klar definiert und abgegrenzt werden müssen und die entsprechenden Qualifikationsbedarfe zu identifizieren sind. Dadurch wird die Grundlage für den reibungsfreien Einsatz eng verzahnter und vernetzter Systeme geschaffen und deren nachhaltiger Einsatz gewährleistet.

Quellen

[1] REFA-Institut: Arbeitsorganisation erfolgreicher Unternehmen im Wandel der Arbeitswelt. Darmstadt, 2016

[2] Bauernhansl, Thomas; Vogel-Heuser, Birgit; Ten Hompel, Michael: Handbuch der Industrie 4.0. Bd. 4 – Allgemeine Grundlagen. Springer-Verlag, 2017

[3] Spath D.. Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0. Fraunhofer IAO, 2013

[4] Bauernhansl, Thomas; Vogel-Heuser, Birgit; Ten Hompel, Michael: Industrie 4.0 in der Produktion, Automatisierung und Logistik – Anwendung, Technologien, Migration. Springer-Verlag, 2014

[5] Mosler A.: Integrierte Unternehmensplanung – Anforderungen, Lösungen und Echtzeitsimulation im Rahmen von Industrie 4.0. Wiesbaden: Springer-Verlag, 2017

[6] Botthof A., Hartmann E. A.: Zukunft der Arbeit in Industrie 4.0. Springer-Verlag, 2015

[7] Chapman, Pete; Clinton, Julian; Kerber, Randy; Khabaza, Thomas; Reinartz, Thomas; Shearer, Colin; Wirth, Rüdiger: CRISP-DM 1.0. SPSS Inc., N.N., 2000

[8] SAP AG: Industrie 4.0 mit SAP: Intelligente Instandhaltung. aufgerufen am 6.03.2018 unter https://www.youtube.com/watch?v=Y3bnuPs6PHw

[9] Siemens AG: Reduzierung der Fertigungskomplexität bei Audi in Neckarsulm. aufgerufen am 12.03.2018 unter https://www.youtube.com/watch?v=Yv_GZSDAPik

[10] Huber W.: Industrie 4.0 in der Automobilproduktion – Ein Praxisbuch. Wiesbaden: Springer-Verlag, 2016

[11] Spath, Dieter: Herausforderungen an Arbeitsorganisation und Arbeitsgestaltung durch Demografie und Flexibilisierung. Stuttgart

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