Verfasser: Kim Bogus, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am REFA-Institut e.V., Dortmund
Industrial Engineering in Zeiten der Industrie 4.0 – Teil 3
Die Industrie 4.0 verändert die Arbeitsplatzgestaltung nachhaltig. Dabei muss der Industrial Engineer verschiedene Lösungsmöglichkeiten betrachten und über deren sinnvollen Einsatz entscheiden. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für den Menschen steht dabei im Vordergrund und ist eine der Kernaufgaben des Industrial Engineer.
In den ersten zwei Beiträgen dieser Reihe wurden Chancen und Herausforderungen der Industrie 4.0 sowie die Paradigmen der Industrie 4.0 vorgestellt und die Rolle des Industrial Engineer als Wegbereiter der Industrie 4.0 beschrieben. Dabei ist das moderne Industrial Engineering in verschiedenen Ebenen tätig und trägt zum Erfolg des Unternehmens bei. Damit der Industrial Engineer auch in der Industrie 4.0 Gestaltungsaufgaben angehen kann, muss er über die Kompetenz verfügen, eine optimale Lösung zu finden. Die Industrie 4.0 bietet dabei diverse Ansätze, die in verschiedenen Handlungsfeldern des Unternehmens Anwendung finden. Ausgehend von der Arbeitsplatz- und Arbeitssystemgestaltung werden in den folgenden Beiträgen aktuelle Ansätze und Beispiele für die verschiedenen Handlungsbereiche des Industrial Engineer vorgestellt (vgl. Bild „REFA-Haus“ im 1. Teil dieser Beitragsreihe).
Ein Kernbaustein der Prozessorientierten Arbeitsorganisation ist der Arbeitsplatz. Die Betrachtung und Gestaltung des Arbeitsplatzes ist elementar und nach wie vor eines der wichtigsten Handlungsfelder des Industrial Engineer. Daher ist auch in der Industrie 4.0 nach wie vor die Expertise des Industrial Engineer gefragt, wenn es um die Entwicklung, Gestaltung und Integration neuer Lösungen geht.
Zusammenarbeit von Mensch und Maschine
Zukünftig wird die Arbeitsplatzgestaltung von der Zusammenarbeit von Mensch und Maschine in einem kollaborativen Umfeld geprägt sein. Realisiert wird das beispielsweise durch Sensoren, die physikalische oder chemische Eigenschaften erfassen, und Aktoren, die wiederum elektrische Signale (z. B. vom Steuerungscomputer ausgehende Befehle) in physikalische Größen (z.B. Druck, Temperatur, Bewegung) umwandeln. In Kombination mit digitalen Schnittstellen können so vernetzte Arbeitsplätze realisiert werden.
Die Ergonomie ist in der Industrie 4.0 von wesentlicher Bedeutung bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen. Der Einsatz neuer Technologien erlaubt es, den Arbeitsplatz an die Bedürfnisse des jeweiligen Mitarbeiters individuell anzupassen. Eine Möglichkeit ist etwa der Einsatz von höhenverstellbaren Arbeitsplätzen, die sich entsprechend hinterlegter Mitarbeiterprofile automatisch auf die optimale Arbeitshöhe einstellen. Unnötige Handgriffe und manuelle Einstellungen entfallen und ersparen zusätzlich benötigte Zeit [1]. Im Verbundprojekt ERGOTAB mit REFA Mecklenburg-Vorpommern wurde ein solches System für alters- sowie alternsgerechtes Arbeiten realisiert [2].
Auch Assistenzsysteme werden immer häufiger in Unternehmen eingesetzt. Hier unterstützen sie beispielsweise den Mitarbeiter bei der Ausführung manueller Montagetätigkeiten. Energetische Assistenzsysteme reduzieren die körperliche Belastung, wohingegen informatorische Systeme Unsicherheiten und mentale Belastungen verringern oder vermeiden [3].
Ein Beispiel zur Reduzierung der körperlichen Belastung durch energetische Assistenzsysteme sind Exoskelette, die zum einen passiv zur Gewichtskompensation oder aktiv durch die Erzeugung zusätzlicher Unterstützungskraft eingesetzt werden können. Körpergetragene Exoskelette ermöglichen also die Reduzierung oder Vermeidung von muskuloskelettalen Erkrankungen durch schweres Heben, Über-Kopf-Tätigkeiten oder auch durch das Arbeiten in ungünstigen Haltungen – ohne dabei die Arbeitsabläufe und die Bewegungsfreiheit des Arbeiters einzuschränken [4].
Außerdem können kollaborative Roboter als weiteres Handlungsfeld den Menschen bei der Ausübung der Tätigkeiten energetisch unterstützen. Diese Roboter zeichnen sich durch eine konstruktiv oder sicherheitstechnisch geregelte „Harmlosigkeit“ aus, sodass sie im Fall eines Kontaktes mit dem Menschen keine Verletzungen herbeiführen [6]. Ermöglicht wird das durch Sicherheitssensoren, die im Falle einer Annäherung oder eines Zusammenstoßes die Bewegung einstellen und somit eine Gefährdung ausschließen [7]. Je nach Arbeitsbedingungen können mobile Leichtbauroboter eingesetzt werden und erlauben zusätzliche Flexibilität. Sogar der Einsatz bereits installierter Industrieroboter für den kollaborativen Einsatz ist dank angepasster Sensor-Haut möglich. Somit sind nicht immer kostspielige Neuinvestitionen vonnöten und machen einen Einstieg auch für kleinere Betriebe interessant [8].
Bei der Ausführung seiner Tätigkeiten kann der Mensch nicht nur unter ergonomischen Aspekten durch neue Technologien unterstützt werden. Beispielsweise ermöglichen so genannte Wearables das Austauschen von Informationen über das Internet der Dinge. Eine weitere Möglichkeit ist die Datenbrille, die dem Mitarbeiter Informationen in das reale Sichtfeld einblenden kann. Eingesetzt werden diese etwa bei der Kommissionierung von Lageraufträgen, auch Pick-by-vision genannt [9]. Je nach Anwendungsfall können auch sensorgestützte Handschuhe eingesetzt werden, die etwa das Bedienen eines zusätzlichen Handscanners erübrigen [10].
Herausforderungen für den Industrial Engineer
Für den Industrial Engineer ergeben sich hieraus neue Möglichkeiten bei der Arbeitsplatzgestaltung. Arbeitsplätze, die aus ergonomischen Gesichtspunkten kritisch sind, können durch ein Exoskelett entschärft werden. Dadurch lässt sich die Arbeitsfähigkeit der Mitarbeiter nachhaltig verbessern. Nicht zuletzt könnte auch der benötigte Flächenbedarf in einem Arbeitssystem reduziert werden, da große Handhabungsgeräte oder Lastkräne entfallen. Durch die Mensch-Roboter-Kollaboration können Prozesse einfacher parallelisiert werden und entlasten so den Mitarbeiter. Die Option, manuelle Montagevorgänge mit hochpräzisen Robotertätigkeiten in einem Arbeitsraum zu kombinieren, schafft neue Möglichkeiten bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen innerhalb des Montageablaufes eines Produktes.
Informatorische Assistenzsysteme sind gerade bei der Ausgestaltung von Arbeitsplätzen mit hoher Komplexität durch variantenreiche Produkte oder eine hohe Zahl an verschiedenen Einzelteilen ideal. Durch Projektoren, Sprach- und Gestensteuerung oder Bildverarbeitung kann der Monteur aktiv bei seiner Tätigkeit unterstützt werden. Lichtsysteme heben visuell denjenigen Entnahmebehälter hervor, der für den nächsten Arbeitsschritt benötigt wird oder blenden am Produkt den zu verbauenden Ort ein. Projektoren oder Bildschirme ermöglichen das Abspielen von anleitendem Videomaterial, damit Montageverzögerungen reduziert werden können. Auch intelligente Qualitätskontrollsysteme ermöglichen (z.B. durch lernende Bildüberwachung) das Erkennen von fehlerhaften Montageschritten und helfen, Fehler frühzeitig zu erkennen [3] [12].
Auch autonome Systeme helfen dem Menschen bei der Ausführung seiner Tätigkeiten. So können Fahrerlose Transportsysteme (FTS) die intralogistische Teileversorgung übernehmen und selbstständig Bauteile und Behälter zum Verbauort transportieren und bereitstellen. Hierbei können verschiedene Systeme, wie etwa laser- oder kamerabasierte Systeme zum Einsatz kommen. Je nach Gegebenheit muss hier individuell entschieden werden, welche Technologie im Unternehmen angewendet wird. Ein spezielles Einsatzfeld von FTS ist auch deren unterstützende Verwendung bei der manuellen Kommissionierung von Baugruppen, die anschließend an einem weiterführenden Arbeitsplatz montiert werden. Das Karlsruher Institut für Technologie hat hierfür ein gestengesteuertes Transportfahrzeug entwickelt, das dem Menschen das zusätzliche Bewegen eines Schiebewagens abnimmt (Bild 4).
Der Industrial Engineer ist in der Industrie 4.0 gefordert, neue Methoden und Werkzeuge sowie Technologien und deren Anwendbarkeit zu kennen und mit diesem Wissen bestehende Arbeitsbereiche weiterzuentwickeln und neue Arbeitsplätze nachhaltig zu gestalten. Der Mensch spielt hierbei eine zentrale Rolle, da er direkt mit neuen Technologien arbeitet, agiert und kommuniziert. Zwar haben neue Werkzeuge und Systeme das Ziel, die Arbeit zu erleichtern, allerdings muss ein Industrial Engineer auch die nötigen Voraussetzungen kennen, die für einen reibungsfreien Einsatz notwendig sind. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist die systematische Planung und Umsetzung möglicher Technologien. Erst dann wird ein nachhaltiger Einsatz sichergestellt [14].
Quellen
[1] Automobil-Produktion: Bosch zeigt Arbeitsplatz 4.0, aufgerufen am 22.01.2018 unter https://www.automobil-produktion.de/zulieferer/bosch-zeigt-arbeitsplatz-4-0-101.html
[2] REFA Mecklenburg-Vorpommern: Abschlusskonferenz zum Verbundprojekt ERGOTAB am 22. September 2017 in Rostock, aufgerufen am 10.02.2018 unter https://www.refa-mv.de/aktuelles/abschlusskonferenz-ergotab-am-22-september-2017-in-rostock/
[3] Reinhart, G.; Shen, Y.; Spillner, R.: Hybride Systeme – Arbeitsplätze der Zukunft. Nachhaltige und flexible Produktivitätssteigerung in hybriden Arbeitssystemen. In: wt Werkstattstechnik online. 103, H. 6, Springer-VDI, Düsseldorf, 2013
[4] Fraunhofer IPA. Rogge T., Daub U., Ebrahimi A, Schneider U.: Der Interdisziplinäre Entwicklungsprozess von aktiv angetriebenen, körpergetragenen Exoskeletten für die oberen Extremitäten am Beispiel des „Stuttgart Exo-Jacket“ aufgerufen am 28.01.2018 unter https://www.researchgate.net/profile/Robert_Weidner/publication/311669596_Technische_Unterstutzungssysteme_die_die_Menschen_wirklich_wollen_Band_zur_zweiten_transdisziplinaren_Konferenz_2016/links/5853896e08ae0c0f322284e1/Technische-Unterstuetzungssysteme-die-die-Menschen-wirklich-wollen-Band-zur-zweiten-transdisziplinaeren-Konferenz-2016.pdf#page=225
[5] Produktion: Exoskelett-Einsatz bei BMW in Spartanburg HD, aufgerufen am 28.01.2018 unter https://www.youtube.com/watch?v=e_oaijxWrWI
[6] Internationales Forum Mechatronik. Björn M. Ph.D., Dr.-Ing. Hao D., ABB AG Forschungszentrum: Die Zukunft der Mensch-Roboter Kollaboration in der industriellen Montage aufgerufen am 29.01.2018 unter https://www.researchgate.net/profile/Bjoern_Matthias/publication/269410966_Die_Zukunft_der_Mensch-Roboter_Kollaboration_in_der_industriellen_Montage/ links/54f96ec80cf2ccffe9e113e4/Die-Zukunft-der-Mensch-Roboter-Kollaboration-in-der-industriellen-Montage.pdf
[7] Hannover Messe: Sensorhaut und KI kleiden fühlende Roboter, aufgerufen am 22.01.2018 unter http://www.hannovermesse.de/de/news/sensorhaut-und-ki-kleiden-fuehlende-roboter-65152.xhtml
[8] Produktion: Kollaborierende Robotik – Der Cobot als Freund und Helfer, aufgerufen am 22.01.2018 unter https://www.produktion.de/trends-innovationen/kollaborierende-robotik-der-cobot-als-freund-und-helfer-112.html
[9] Intralogistik: Pick-by-Vision – Smart Glasses in der Kommissionierung, aufgerufen am 22.01.2018 unter https://intralogistik.tips/pick-by-vision-smart-glasses-in-der-kommissionierung
[10] Festo: Elektronik zum Anziehen, aufgerufen am 22.01.2018 unter https://www.festo.com/group/de/cms/12276.htm
[11] KUKA Systems: Sensitives Fügen von Kegelrädern im Mensch-Roboter-Kollaboration-Betrieb (MRK) aufgerufen am 29.01.2018 unter https://www.youtube.com/watch?v=OxNC8yvsZ6s
[12] Hinrichsen S., Riediger D., Unrau A.: Anforderungsgerechte Gestaltung von Montageassistenzsystemen, aufgerufen am 27.01.2018 unter https://refa.de/blog-industrial-engineering/423-anforderungsgerechte-gestaltung-von-montageassistenzsystemen
[13] KIT: Fifi – Ein gestengesteuertes Transportfahrzeug für die Intralogistik, aufgerufen am 30.01.2018 unter https://www.youtube.com/watch?v=Zy9AqGxUqp4
[14] Sven Hinrichsen, Tim Kleineberg. Leitfaden: Einführung von Assistenzsystemen in der Montage, aufgerufen am 30.01.2018 unter https://www.researchgate.net/publication/320583783_Leitfaden_Einfuhrung_von_Assistenzsystemen_in_der_Montage