Paradigmen der Industrie 4.0 – die Veränderung verstehen und gestalten


Verfasser: Kim Bogus, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am REFA-Institut e.V., Dortmund

Industrial Engineering in Zeiten der Industrie 4.0 – Teil 2

Die Industrie 4.0 beeinflusst das Denken und Handeln im Unternehmen. Diese Veränderung muss aktiv begleitet werden, um die neuen Paradigmen nachhaltig im Unternehmen zu verankern. Der Industrial Engineer ist dabei interdisziplinäres Bindeglied im Unternehmen und muss die Auswirkungen der Industrie 4.0 kennen und verstehen, um als Wegbereiter fungieren zu können.

Mit dem Begriff „Industrie 4.0“ wurde zum ersten Mal auf der Hannover-Messe 2011 eine Entwicklung benannt, die nach den vorangegangenen Stufen nun die vierte industrielle Revolution einleiten sollte [1]. Nach der Erfindung von Wasser- und Dampfmaschinen in der ersten Revolutionsstufe, gefolgt von der Einführung arbeitsteiliger Massenproduktion, vollzog sich die dritte industrielle Revolution mit dem Einsatz der Elektronik und IT zur Automatisierung der Produktion. Wie bereits im ersten Artikel der Reihe erläutert, umfasst die vierte industrielle Revolution die Vernetzung der Dinge [2].

Geprägt von der stetigen Veränderung in der Industrie entwickelte sich das Industrial Engineering stets weiter, um die neuen Anforderungen und Herausforderungen im Unternehmen zu meistern. Auch die Industrie 4.0 wird das Aufgabenbild des Industrial Engineer verändern. Die Veränderungen durch die Industrie 4.0 können durch fünf Paradigmen beschrieben werden [3], welche die zukünftigen Anforderungen an das Industrial Engineering prägen werden.

Bild 1: Paradigmen der Industrie 4.0 [3]

Vertikale Integration bedeutet (..), dass alle unternehmensinternen Systeme in eine Hierarchie eingeordnet und Schnittstellen zum Datenaustausch zwischen den entstehenden Hierarchieebenen aufgebaut werden“ [3]. Das heißt, dass in einem Unternehmen gleiche funktionale EInheiten (z. B. Einkauf) von der Leitung bis zu den einzelnen Unterabteilungen aus einer einheitlichen Prozess- und IT-Struktur bestehen. Undurchsichtige Prozess- und IT-Landschaften werden dadurch vermieden und ermöglichen eine vereinfachte Kommunikation und Integration der Abteilungen. Der Aufwand, verschiedenste Tools und Anwendungen autark zu betreiben, entfällt, wodurch die Transparenz im Unternehmen wesentlich gesteigert werden kann und redundante Arbeiten vermieden werden.

„Die horizontale Integration hingegen beschreibt die Einbindung von Systemen von Kunden, Lieferanten, verteilten Unternehmensstandorten sowie externen Dienstleistern und Produzenten…“ [3]. Die reibungsfreie Integration steigert auch hier nicht nur die Transparenz, sondern ermöglicht es auch über die Unternehmensgrenzen hinaus, Beteiligte sinnvoll in die Prozesse einzubinden. Dabei ist das Konzept der interdisziplinären Kommunikation nicht neu, jedoch werden durch Technologien neue Möglichkeiten geschaffen, die diese Prozesse wesentlich transparenter und schneller gestalten können, teilweise auch erst ermöglichen. Der Industrial Engineer als Prozessgestalter und Arbeitsdatenmanager wird hier gleich in zwei Bereichen stark gefordert. Zum einen müssen die Prozesse entsprechend der neuen Arbeitsstrukturen angepasst werden und zum anderen müssen Daten mehr denn je zur richtigen Zeit am richtigen Ort zur Verfügung stehen. Besonders wichtig ist hierbei, dass alle benötigten Informationen dem Benutzer für die Erfüllung seiner Aufgabe zur Verfügung stehen. In diesem Spannungsfeld ist es die Aufgabe des Industrial Engineer, die Rahmenbedingungen durch klar strukturierte Prozesse zu schaffen.

Die Dezentrale Intelligenz bedeutet die Fähigkeit von Produkten, Produktionsmitteln und -anlagen, Daten über den Produktionsprozess zu speichern und die Informationen im Netzwerkverbund über das Internet der Dinge mit anderen Objekten auszutauschen. Entscheidend ist hierbei die Tatsache, dass die Informationsträger nicht zwangsweise nur über eine zentrale Steuerung kommunizieren. Vielmehr sollen sie in die Lage versetzt werden, direkt mit entsprechenden Prozessbeteiligten Daten und Informationen auszutauschen. So ist etwa ein Produkt mit einem RFID-Tag ausgestattet, der alle Informationen enthält, die für die Herstellung benötigt werden, und kommuniziert diese mit Prozessbeteiligten innerhalb des Wertschöpfungsprozesses. Die Kommunikation erfolgt also eigenständig unter den „Akteuren“ selbst. Betrachtet man dieses Paradigma aus Sicht des Industrial Engineering, so wird klar, dass in der Arbeitsorganisation und Arbeitssystemgestaltung in Zukunft neue Wege möglich sind. Der Industrial Engineer muss fähig sein, Arbeitssysteme so zu gestalten, dass eine Kommunikation zwischen allen Objekten einwandfrei möglich ist. Vor allem der Mensch nimmt hier eine zentrale Rolle ein. Er muss ohne Benachteiligung in den Kommunikationsprozess eingebunden werden und befähigt werden, alle Tätigkeiten im neuen Arbeitsumfeld ausüben zu können. So wird gewähreistet, dass Unterstützungssysteme, wie etwa eine Montageassistenz, nachhaltig zum Einsatz kommen. Diese werden beispielsweise bei Montagetätigkeiten von extrem variantenreichen Produkten eingesetzt.

Durch dezentrale, vernetzte Intelligenzen können Objekte miteinander kommunizieren und durch eine dezentrale Steuerung geleitet werden. Eine zentrale Steuerung, beispielsweise durch einen Leitrechner, wird dann obsolet. Eine solche dezentrale Steuerung ist also ortsungebunden. Informationen werden über das Internet der Dinge direkt mit entsprechenden Prozessbeteiligten kommuniziert und so „selbstständig“ der optimale Pfad des Produktes durch die Produktion bestimmt. Hier liegen Potenziale zur Produktivitätssteigerung. Deren Erschließung generiert im Unternehmen nachhaltige Wettbewerbsvorteile. Gerade hier ist ein fundiertes Arbeitsdatenmanagement elementar. Aufgrund der Masse an Informationen, der hohen Anzahl an Sensoren, Aktoren und Schnittstellen wird ein sehr hohe Datenvolumen in sehr kurzen Zeitabständen zwischen den Objekten verschickt. Daher muss der Industrial Engineer die relevanten Daten von Beginn an anforderungsgerecht dem Prozesszweck entsprechend definieren, um die Belastung der IT-Infrastruktur möglichst gering zu halten. Außerdem kann er bei der Entwicklung und Definition zugrundeliegender Steuerungs- und Entscheidungslogiken, nach denen eine dezentrale Steuerung geregelt wird, unterstützen. Nicht zuletzt muss er geeigneter Vorgehen zur Nachverfolgung einer dezentralen Steuerung entwickeln, da Informationen nicht zwangsweise an einer Stelle zusammenlaufen.

Das durchgängige digitale Engineering beschreibt die digitale Abbildung eines physischen Produktionsprozesses, wobei ähnlich zum ersten Paradigma alle Prozesse von der Entwicklung bis zur Produktionsplanung als Gesamtprozess gesehen werden und der Anspruch besteht, diese in Echtzeit zu visualisieren. Dabei spielt auch die digitale Fabrik eine Rolle, die durch ein umfassendes Netzwerk die Planung, Realisierung, Steuerung und laufende Verbesserung der wesentlichen Fabrikprozesse unterstützt [4]. Hier können Prozesse visualisiert und simuliert werden.

Der ,,digitale Zwilling" ist das Abbild der Produktions- und Entwicklungsprozesse sowie der angrenzenden Bereiche mit dem Zweck, ein identisches Abbild der Realität zu erschaffen und eine echtzeitfähige Auswertung zu ermöglichen [5]. Es entsteht also ein Modell, das den aktuellen physischen Zustand widerspiegelt. Die dadurch entstehenden Möglichkeiten sind vielfältig. So kann etwa die Inbetriebnahme von Anlagen testweise im gesicherten digitalen Umfeld erfolgen oder unterstützt werden, bevor die reale Anlage in Betrieb genommen wird. Änderungen und Anpassungen des Produktionsprozesses können während des Betriebes digital getestet werden. Beispielsweise können auch Instandhaltungsmaßnahmen effizient und anforderungsgerecht abgestimmt werden. Ermöglicht wird dies durch die Daten über das Arbeitssystem, die an das digitale System geliefert werden und sehr genaue Analysen und Aussagen erlauben.

An den Industrial Engineer stellt das mehrere Anforderungen. Er muss nicht nur die technischen Möglichkeiten kennen, sondern auch über deren sinnvollen Einsatz im Unternehmen entscheiden. Auch seine Kompetenzen als Vermittler zwischen den einzelnen Unternehmens- bzw. Fachbereichen sind enorm wichtig, da diese wesentlich enger miteinander verzahnt werden. Für das Datenmanagement heißt das, dass in Echtzeit Informationen an entsprechender Stelle für den Beteiligten verfügbar sein müssen. Der Industrial Engineer muss also gewährleisten, dass entsprechende Prozesse vorab definiert sind und Verantwortlichkeiten geklärt sind. Veränderungen betreffen das Unternehmen als Ganzes und sind nicht auf einzelne Bereiche zu reduzieren. Umso wichtig ist die Kompetenz des Industrial Engineer, Veränderungsprozesse nachhaltig zu gestalten und diese auch zu begleiten. Das heißt nicht nur diese systematisch umzusetzen, sondern auch Hemmnisse und Ängste der Führungskräfte und Beschäftigten zu nehmen sowie Akzeptanz zu schaffen. Er ist „Pionier“ und „Wegbereiter“ zugleich, muss die Industrie 4.0 als Selbstverständnis sehen und das auch klar kommunizieren, um einen nachhaltigen Einsatz zu ermöglichen.

In einer ganzheitlichen Betrachtung der Unternehmensnetzwerke muss der Industrial Engineer die Cyber-physischen Produktionssysteme (CPPS) – also die Gesamtheit des Ansatzes Industrie 4.0 – gestalten, umsetzen und auch nachhaltig betreiben. Dabei müssen Sensoren und Aktoren eines Produktionssystems an ein Steuerungssystem angebunden sein und Daten innerhalb des Systems mit intelligenten Produktionsmitteln austauschen.

Insbesondere ist die Einbindung des Menschen durch Mensch-Maschine-Schnittstellen zu realisieren, damit dieser optimal mit den Objekten in seinem Arbeitsumfeld über das Internet der Dinge kommunizieren kann. Die Aufgabe des Industrial Engineering ist hierbei, die technische Lösung nachhaltig im Unternehmen zu integrieren, dabei die nötigen Rahmenbedingungen für den Menschen zu schaffen und in eine angepasste Organisationsstruktur einzubetten. Es gilt nicht, bestehende Ganzheitliche Produktionssysteme (GPS) zu ersetzen. Eher ist das Ganzheitliche Produktionssystem des Unternehmens die Grundlage, auf dessen Basis eine nachhaltiges CPPS aufgesetzt wird. Der Industrial Engineer ist demnach nach wie vor gefordert, Standards und Stabilität in die Unternehmensprozesse zu bringen.

Der Industrial Engineer bewegt sich in einem vielschichtigen Spannungsfeld in der Industrie 4.0 und ist demnach nicht nur Planer und Gestalter für die Einbringung neuer technologischer Lösungen in das Unternehmen, sondern muss auch die Fähigkeit besitzen, über die Machbarkeit und Sinnhaftigkeit einer solchen Lösung hinaus zu denken und den Menschen im Umfeld der Unternehmensorganisation betrachten. Die Industrie-4.0-Lösung ist also nicht der „Rettungsring“ für das Unternehmen, sondern muss strukturiert unter ganzheitlicher Betrachtung im Betrieb umgesetzt werden. Dies erfordert ein Industrial Engineering als Schnittstellenfunktion und „Wegbereiter“ für die Industrie 4.0. Dafür braucht der IE Kenntnisse in verschiedenen Handlungsbereichen, die durch die Industrie 4.0 angepasst oder gar erst möglich werden. In den folgenden Beiträgen werden die einzelnen Handlungsfelder intensiver diskutiert.

Quellen

[1] H. Kagermann, W.-D. Lukas, W. Wahlster: Industrie 4.0: Mit dem Internet der Dinge auf dem Weg zur 4. industriellen Revolution. VDI-Nachrichten. April 2011

[2] REFA-Institut: REFA-Artikelreihe Industrie 4.0: Aufbruch zum smarten Unternehmen – Chancen und Herausforderungen der Industrie 4.0. https://refa.de/blog-industrial-engineering/417-aufbruch-zum-smarten-unternehmen-chancen-und-herausforderungen-der-industrie-4-0

[3] A. Roth: Einführung und Umsetzung von Industrie 4.0: Grundlagen, Vorgehensmodell und Use Cases aus der Praxis. Springer-Verlag. 2016

[4] VDI: Digitale Fabrik Grundlagen VDI-Richtlinie 4499. Blatt 1 VDI-RICHTLINIEN. Februar 2008

[5] Wissenschaftliche Gesellschaft für Produktionstechnik (WGP): WGP-Standpunkt Industrie 4.0 aufgerufen am 07.12.17 unter: https://wgp.de/wp-content/uploads/WGP-Standpunkt_Industrie_4-0.pdf

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