Verfasser: Kim Bogus, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am REFA-Institut e.V., Dortmund
Technische Anwendungen der Digitalisierung und Industrie 4.0 sind kein Selbstzweck oder gar Rettungsring. Vielmehr soll durch den Einsatz neuer Technologien ein nachhaltiger Nutzen geschaffen werden und im Sinne der Unternehmensziele stehen. REFA-AGIL 4.0 bietet Unternehmen eine Bewertungsmethodik zur Ableitung individuell zugeschnittener Industrie 4.0-Technologien.
Die zunehmende Individualisierung der Kundenwünsche und kürzere Produktlebenszyklen sind nur ein Teil der aktuellen Herausforderungen, denen sich Unternehmen stellen müssen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig zu sichern. Anwendungen der „Industrie 4.0“ und „Digitalisierung“ sollen Unternehmen entscheidend unterstützen, wenn es um die Lösung aktueller Aufgaben im Betrieb geht.
Von der Virtual Reality über den 3D-Druck bis hin zu Cyber-Physischen Systemen bieten verschiedenste Technologien das Potenzial zur Steigerung der Produktivität, Verbesserung der Prozesse oder auch zur engeren Vernetzung der einzelnen Unternehmensbereiche. In der Theorie klingt das simpel, doch die Realität ist in den meisten Fällen wesentlich komplexer. Für eine nachhaltige und vor allem auch nutzenbringende Integration der Technologien sind nicht nur Know-how zu den Technologien, klare Prozesse im Unternehmen und eine für den Wandel vorbereitete Organisation wichtig. Einen entscheidenden Faktor für den erfolgreichen Einsatz der Industrie 4.0 stellt die Ableitung und Bewertung verschiedenster Anwendungsszenarien und folglich auch Technologien für das Unternehmen dar. Dabei ist es besonders wichtig, ausgehend vom Unternehmenszweck, die Unternehmens- und Bereichsziele in die Gestaltung möglicher Szenarien mit einzubeziehen.
Die systematische und analytische Ableitung möglicher Industrie 4.0-Lösungen aus den Zielen ist die Grundlage für den produktiven und nutzenbringenden Einsatz der Industrie 4.0. Oftmals werden Entscheidungen für den Einsatz bestimmter „Gadgets“ – beispielsweise die Datenbrille – ohne hinreichend kritische Betrachtung der Einsatzeignung und Begründung hoher Investitionskosten getroffen. Die Folge ist dann nicht selten das Scheitern des Projektes, ohne dass das eigentliche Problem gelöst wurde. Im schlimmsten Fall entsteht im Unternehmen sogar eine Aversion gegenüber neuen Technologien. Generell sind hohe Investitionen und zu wenig qualifiziertes Personal ein großes Hindernis für die Einführung von Industrie 4.0 (Bild 1).
Bild 1: Umfrage zu Hindernissen bei der Einführung der Industrie 4.0 2019 [1]
Für Unternehmen ist es demnach von zentraler Bedeutung, bei der Identifizierung und Auswahl von Anwendungen der Industrie 4.0 strategisch vorzugehen. Das Industrial Engineering nimmt in diesem Prozess eine Schlüsselrolle ein. Als Bindeglied zwischen verschiedenen Unternehmensbereichen, wie Personalwesen, Produktion, Konstruktion und Planung, ist es dessen Aufgabe, alle entscheidenden Informationen zusammenzutragen und entsprechende gestalterische Maßnahmen zu entwickeln, umzusetzen und dabei den Unternehmenszweck und die -ziele als Leitlinie im Blick zu behalten. Es obliegt dem Industrial Engineering, potenzielle Anwendungsbereiche im Unternehmen für die Industrie 4.0 zu erkennen und die richtigen Lösungen abzuleiten.
REFA bietet dem modernen Industrial Engineer eine Bewertungsmethodik, mit der er ausgehend von den Unternehmenszielen schrittweise betriebsspezifisch die erfolgversprechendsten Industrie 4.0-Anwendungsfelder ermitteln kann. REFA-AGIL 4.0 (Ableitungsraum zur Gestaltung unternehmensspezifischer Industrie 4.0-Lösungen) unterstützt den Nutzer bei der systematischen Bewertung der Unternehmensziele hinsichtlich möglicher Handlungsfelder sowie der Ableitung von Funktionen der Industrie 4.0 (Funktionsfelder) und ermöglicht dadurch das Identifizieren passender Technologien (Technologiefelder) (Bild 2). Die ausgearbeiteten Matrizen des REFA-AGIL 4.0 ermöglichen dabei eine Gegenüberstellung und Bewertung der einzelnen Dimensionen des Ableitungsraumes.
Bild 2: REFA-AGIL 4.0 [2]
Der entscheidende Vorteil der Systematik liegt in der ganzheitlichen Betrachtung des Unternehmenssystems, also der Berücksichtigung von Mensch, Technik und Organisation. Der nachhaltige Nutzen der Industrie 4.0 rückt dadurch in den Vordergrund, weshalb falsche Einschätzungen, unüberlegtes Handeln und letztendlich das Scheitern von Projekten reduziert werden kann.
Der Ableitungsraum eignet sich ideal für den Industrial Engineer oder Projektgruppen, die sich im Unternehmen mit der Gestaltung und Umsetzung von Industrie 4.0-Lösungen beschäftigen.
Der REFA-AGIL 4.0 ist Teil des REFA-Standard Industrie 4.0 und kann durch die REFA-Checkliste zur Industrie 4.0 sinnvoll ergänzt werden.
Quellen
[2] Bogus, K.; Stock, P.: Entwicklung einer Bewertungsmethodik zur ganzheitlichen Gestaltung unternehmensspezifischer Industrie 4.0-Lösungen. In: Tagungsband GfA Frühjahrskongress C 3.3, Dresden, 2019