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Der REFA-Blog

Arbeitssystemgestaltung 4.0 – leistungsfähige IT für kreative Menschen


Donnerstag, 29.03.2018

Verfasser: Kim Bogus, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am REFA-Institut e.V., Dortmund

Industrial Engineering in Zeiten der Industrie 4.0 – Teil 4

Eine nachhaltige Gestaltung von Industrie 4.0 kann nur durch die Integration des Menschen gelingen, denn die Entscheidungs- und Handlungskompetenz des Menschen im Arbeitssystem ist für ein Gelingen der Industrie 4.0 essenziell. Dabei steht das Industrial Engineering (IE) vor der Aufgabe, den Menschen in komplexe, weil vernetzte Systeme zu integrieren. Hier sind neueste Methoden und Anwendungen zu nutzen, um mit dem IE ein humanorientiertes Produktivitätsmanagement umzusetzen.

Die humanorientierte Gestaltung von möglichst produktiven Arbeitssystemen ist eine der wesentlichen Aufgaben des IE. Die Herausforderung besteht dabei in der optimalen Verknüpfung der einzelnen Elemente, also von Mensch, Technik und Organisation. Konkret handelt es sich um die hier beschäftigten Mitarbeiter und Führungskräfte, die Betriebsmittel, die zur Ausführung der Arbeit eingesetzt werden, die benötigten Materialien und Informationen sowie die gegebenen Rahmenbedingungen (Bild 1). Diese Kernelemente des Arbeitssystems sind in jedem Unternehmen zu finden [1].

Das REFA-Arbeitssystem-Modell

Bild 1: Der Mensch im Arbeitssystem.

Schwankende Absatzzahlen – sei es durch die Entwicklung an den Märkten oder ständig wechselnde Kundenwünsche – erhöhen die Anforderungen an flexible und wandlungsfähige Arbeitssysteme deutlich. Nur eine wandlungsfähige Produktion erlaubt es, immer kürzer werdende Produktlebenszyklen, unvorhersehbare Konjunkturschwankungen oder saisonale Entwicklungen abzufedern und aufzufangen. Neue Technologien der Digitalisierung und Vernetzung, also der Industrie 4.0, können helfen, die dafür notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Die Planung, Gestaltung und Integration solcher Arbeitssysteme ist die Kernaufgabe des Industrial Engineers.

Industrie 4.0 verlangt eine adäquate Einbindung der menschlichen Intelligenz und Kreativität

Eine zentrale Frage ist zunächst die der Stellung des Menschen in einem produktionsnahen Arbeitssystem. Wie relevant ist er? Wird der Mensch in Zukunft durch künstliche Intelligenzen (KI) ersetzt und damit aus der Fabrik von morgen entfernt?

Diese Diskussion ist nicht neu. Sie wurde zuletzt ab dem Beginn der dritten industriellen Revolution und der Einführung des Computer Integrated Manufacturing (CIM) geführt, das in den 1990er-Jahren wieder bedeutungslos wurde. Auch heute sind sich die Experten sicher, dass die Automatisierung und entsprechende Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) die Fertigungsebene nicht restlos durchdringen können. Denn ohne eine adäquate Einbindung der menschlichen Intelligenz und Kreativität sowie des Einfühlungsvermögens in technische Systeme ist eine Industrie 4.0 nicht realisierbar. Denn die nachhaltige Integration des Menschen spielt eine zentrale Rolle in der Produktion: Nur so können Unternehmen auf immer kürzere Produktlebenszyklen und Produkteinführungszeiten reagieren und die steigenden Ansprüche an flexible Gesamtsysteme befriedigen [2]. Diese Experteneinschätzung bestätigt eine Studie des Fraunhofer IAO, nach der 96,8 % aller befragten Unternehmen den Menschen in Zukunft für sehr wichtig bzw. wichtig bei der Ausführung der Tätigkeiten in der Produktion sehen (Bild 2) [3].

Relevanz der Produktionsarbeit in der Industrie 4.0 [3]

Bild 2: Zukünftige Bedeutung des Menschen in der Produktion.

Industrial Engineer verbindet Produktion mit IT-Systemen

An bestehenden Arbeitssystemen wird vielfach schon jetzt moderne Informationstechnik (IT) eingesetzt. Die Integration von Softwaresystemen ist weit verbreitet: SCM-Software (Supply-Chain-Management) dient der Steuerung der Materialflüsse, ERP-Systeme (Enterprise Resource Planning) zur Ressourcenplanung und -steuerung, MES (Manufacturing Execution Systems) ermöglichen die Feinplanung. Solche unterstützenden Softwaresysteme haben allerdings Defizite, was die Reaktionsfähigkeit auf unvorhergesehene Ereignisse angeht – wie der Ausfall einer Maschine, Lieferengpässe oder ähnliche Szenarien. Intransparente Schnittstellen, inkompatible Datenformate oder auch eine undefinierte Prozessdatenerfassung führen oftmals zu einer schlechten Datenqualität oder zu Systembrüchen. Die Leistungsfähigkeit der IT wird weiter beeinträchtigt durch fehlendes Know-how über die eingesetzten Programme und deren Logiken. Nicht hinterfragte Parameter- und Steuerungseinstellungen erschweren den Anwendern vielfach das Anpassen der Systeme an wechselnde Bedingungen oder das Optimieren von Prozessen [4].

Die Folge sind zum Beispiel instabile Prozesse mit stark schwankenden Auftragsdurchlaufzeiten, hohe Umlaufbestände oder mangelnde Transparenz für die Mitarbeiter. Die Aufgabe des Industrial Engineers ist hier, das reale Produktionsumfeld mit den hinterlegten IT-Systemen abzugleichen sowie beide systematisch zu verbinden und aufeinander abzustimmen. Er hat dafür zu sorgen, dass Anpassungen adaptiv und intuitiv durch ihn oder das entsprechende Personal erfolgen können. Die Industrie 4.0 bietet dank neuartiger Sensoren und Aktoren die Möglichkeit, solche Systeme zu realisieren, und erlaubt eine echtzeitfähige Darstellung eines Systems. So entstehen sogenannte Cyber-Physische-Systeme (CPS) [5].

In den vorangegangenen Beiträgen wurde bereits die Bedeutung der CPS für die Industrie 4.0 herausgestellt. Doch die Integration dieser vernetzten Systeme in die Prozesslandschaft stellt neue Anforderungen an die Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstellen. Der Industrial Engineer braucht daher den Sachverstand zu erkennen und zu entscheiden, welche Informationen an welchen Arbeitssystemen benötigt werden. Ursachen für Verschwendung – wie etwa die (mehrfache) Suche nach relevanten oder richtigen Informationen – lassen sich so abstellen. Mitarbeiter können sich dann auf die wesentlichen Aspekte ihrer Arbeit konzentrieren.

Der Industrial Engineer muss Methoden und Werkzeuge kennen, um diese Informationen zusammenzutragen, zu bündeln und in für Menschen geeigneter Form transparent und nachvollziehbar darzustellen. Beispiele dafür, wie etwa Datenbrillen, wurden im vorhergehenden Artikel vorgestellt. Zudem hat der Industrial Engineer darauf zu achten, dass die Integration der Daten plattformunabhängig erfolgt, damit keine in sich abgeschlossenen oder redundanten Systeme entstehen [4]. Ein CPS steht dabei nicht in Konkurrenz zu bisherigen Arbeits- oder Produktionssystemen, sondern ist vielmehr als ein durch Entscheidungshilfen angereichertes, effektiveres System anzusehen. Das IE sollte daher auf einem bestehenden System aufsetzen. Bei einer Neugestaltung sind weiterhin grundlegende Prinzipien und Standards anzuwenden, um stabile Prozesse zu etablieren [6].

Wenn diese Rahmenbedingungen geschaffen wurden, sind bei der Ausgestaltung des Systems drei wesentliche Elemente zu betrachten: die virtuelle, die physische und die humane Komponente (Bild 3). Die digitalen Komponenten stehen mit den physischen über Vermittler (Sensoren und Aktoren) in Kontakt und sind so miteinander vernetzt. Der Mensch kommuniziert über eine Benutzerschnittstelle mit der virtuellen Komponente und kann bei Bedarf die physische Komponente unmittelbar manipulieren [4].

Cyber-Physisches Gefüge

Bild 3: Zusammenhang zwischen virtueller, physischer und humaner Komponente. 

Das CPS kann damit als eine Ausformung einer sozio-technischen Konstellation angesehen werden, bei der Humanorientierung und Produktivität gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Ziele sind eine hohe Wirtschaftlichkeit bei gleichzeitig individueller, nutzergerechter Gestaltung. So lassen sich auch die Prinzipien der Prävention und der Nachhaltigkeit umsetzen. Der Mensch kann aufgrund der Vernetzung und Generierung von Daten in einem CPS frühzeitig eingreifen und damit proaktiv handeln, bevor Qualitätsmängel oder Stillstandszeiten auftreten. Möglich wird so auch eine vorhersagende Wartung – die Predictive Maintenance – als eine weitere Möglichkeit, proaktive Präventionen vorzunehmen.

Die Erfassung und Auswertung von Maschinendaten lassen Prognosen über das Ausfallverhalten zu. Als positive Effekte sind zum Beispiel eine verbesserte Beschaffungsplanung für Ersatzteile, die Reduzierung der Produktionsausfälle oder die Optimierung der Wartungsplanung möglich [4]. Die Herausforderung für den Industrial Engineer ergibt sich dabei aus dem erweiterten Datenmanagement. Wichtig ist nicht nur, in welcher Form die Daten final zur Verfügung stehen, sondern auch, wer Zugriff auf diese Daten hat, sie einsehen oder bearbeiten kann. Ein breites Verständnis für Daten und fundiertes Wissen zu Datenerhebung, -verarbeitung und -speicherung ist also für den Industrial Engineer in der Industrie 4.0 von höchster Bedeutung. Datenvorbereitung, -modellierung, -evaluierung und -bereitstellung sind ebenso wichtig wie entsprechende Datenschutz- und -sicherheitsthemen [7].

Intelligente Instandhaltung

Der Industrial Engineer kann aber nicht nur direkt im Arbeitssystem, sondern auch bei der Planung solcher Systeme von neuen Anwendungen profitieren. Ein durchgängiges Engineering mit vernetzter und beschleunigter interdisziplinärer Kommunikation kann beispielsweise die Arbeitssystemgestaltung optimieren. Bereits in der Entwicklungsphase eines Produkts lassen sich mögliche konstruktionsbedingte Auswirkungen auf die Montagetätigkeiten ableiten. Diese Informationen können in Echtzeit in die Gestaltung einfließen. Da dem Industrial Engineer auf diese Weise die benötigten Daten wesentlich schneller zur Verfügung stehen – und diese zudem präziser sind –, ist er in der Lage, entsprechende Veränderungen schon im Entwicklungsprozess zeitnah anzustoßen und damit zeitliche Einsparungspotenziale zu erschließen.

Beispiel für Intelligente Instandhaltung

Die Arbeitssystemgestaltung wird in Zukunft also noch mehr durch das Arbeitsdatenmanagement beeinflusst werden – insbesondere durch die damit verbundenen neuen Methoden, Vorgehensweisen und Anwendungen. Damit wird das Arbeitsdatenmanagement bei der Ausgestaltung des physischen Arbeitsplatzes eine tragende Rolle einnehmen. Die Humanorientierung fordert aber zugleich, dass der Mensch im Arbeitssystem angemessen integriert werden muss. Als zunehmend steuernder und entscheidender Akteur muss er in der Lage sein, komplexe und diffuse Situationen zu erfassen und Konflikte zwischen vernetzten Maschinen zu lösen. So hat er bei der Verwendung moderner Technologien entsprechende Flexibilitätsanforderungen zu erfüllen [11].

Der Industrial Engineer hat dabei die Aufgabe, diese Anforderungen zu kennen und frühzeitig die entsprechenden Qualifizierungsbedarfe der Elemente eines solchen Arbeitssystems abzuleiten. Neben den technischen Voraussetzungen hat er also auch die Qualifikation der Mitarbeiter zu gewährleisten – auch im Hinblick auf die sich für den Menschen ändernde Umgebung und die sich wandelnden Ansprüche im Arbeitssystem. Denn Flexibilität lässt sich nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Produktivität betrachten, sie ist zudem Teil eines kulturellen Wandels. Auch Mitarbeiter fordern Flexibilität und eine Balance zwischen Arbeits- und Lebenszeit – sowie herausfordernde Aufgaben und die Chance zur Selbstentfaltung [12].

Die Anpassungen erfolgen in der Regel langsam und über mehrere Instanzen hinweg. Die sich daraus ergebenden Veränderungen können im Unternehmen aber auf Dauer radikal sein. Wie in den früheren industriellen Revolutionsstufen kann die Arbeit in einem produktionsnahen Arbeitssystem von revolutionären, disruptiven Veränderungen geprägt werden. Eine frühzeitige Integration aller Beteiligten hilft dabei, aufkommende Ängste und Vorbehalte zu zerstreuen und positive Treiber und Multiplikatoren im Unternehmen zu identifizieren. Der Industrial Engineer muss, wie die Führungskräfte, neue Möglichkeiten und deren Vorteile aufzeigen und auf Augenhöhe kommunizieren, um den Weg zur Veränderung nachhaltig zu gestalten.

Fazit

Das Industrial Engineering ist in der Industrie 4.0 gefordert, neue Methoden und Werkzeuge aufzugreifen sowie Technologien und deren Anwendbarkeit zu prüfen und umzusetzen. Dieses Wissen hat der Industrial Engineer zu nutzen und einzusetzen, um bestehende Arbeitssysteme weiterzuentwickeln oder neue Systeme nachhaltig zu gestalten. Das Ziel ist ein humanorientiertes Produktivitätsmanagement.

Der Mensch spielt hierbei eine zentrale Rolle. Aufgaben im System müssen daher klar definiert und abgegrenzt werden. Der Industrial Engineer hat die entsprechenden Qualifikationsbedarfe zu identifizieren und Qualifikationen zu veranlassen. So schafft er die Grundlage für den störungsfreien Betrieb eng verzahnter und vernetzter Systeme und gewährleistet deren nachhaltiger Einsatz.

Quellen

[1] REFA-Institut (2016): Arbeitsorganisation erfolgreicher Unternehmen im Wandel der Arbeitswelt. REFA: Darmstadt.

[2] Bauernhansl, T.; Vogel-Heuser, B.; Ten Hompel, M. (2017): Handbuch der Industrie 4.0. Bd. 4: Allgemeine Grundlagen. 2. Aufl., Springer Vieweg: Berlin.

[3] Spath, D. (2013): Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0. Fraunhofer IAO: Stuttgart.

[4] Bauernhansl, T.; Vogel-Heuser, B.; Ten Hompel, M. (Hrsg.) (2014): Industrie 4.0 in der Produktion, Automatisierung und Logistik. Anwendung – Technologien – Migration. Springer Vieweg: Wiesbaden.

[5] Mosler A. (2017): Integrierte Unternehmensplanung. Anforderungen, Lösungen und Echtzeitsimulation im Rahmen von Industrie 4.0. Springer Gabler: Wiesbaden.

[6] Botthof A.; Hartmann E.A. (Hrsg.) (2015): Zukunft der Arbeit in Industrie 4.0. Springer Vieweg: Berlin, Heidelberg.

[7] Chapman, P.; Clinton, J.; Kerber, R.; Khabaza, T.; Reinartz, T.; Shearer, C.; Wirth, R. (2000): CRISP-DM 1.0. SPSS Inc., N.N.

[8] SAP AG: Industrie 4.0 mit SAP: Intelligente Instandhaltung; https://www.youtube.com/watch?v=Y3bnuPs6PHw [06.03.2018].

[9] Siemens AG: Reduzierung der Fertigungskomplexität bei Audi in Neckarsulm; https://www.youtube.com/watch?v=Yv_GZSDAPik [12.03.2018].

[10] Huber, W. (2016): Industrie 4.0 in der Automobilproduktion. Ein Praxisbuch. Springer Vieweg: Wiesbaden.

[11] Spath, D. (o. J.): Herausforderungen an Arbeitsorganisation und Arbeitsgestaltung durch Demografie und Flexibilisierung. Fraunhofer IAO: Stuttgart.