Der Digitale Fabrikzwilling – Chancen und Herausforderungen


Der Digitale Fabrikzwilling – Chancen und Herausforderungen

Seit einigen Jahren erfährt die Arbeits- und Betriebswelt einen stetigen Wandel – einerseits bedingt durch verschiedene Megatrends wie demografischer Wandel, Globalisierung oder Digitalisierung und andererseits durch aktuelle Ereignisse wie die Covid-19-Pandemie oder den Ukraine-Krieg. Es ist zu erwarten, dass Tempo und Umfang der Veränderungen weiter zunehmen werden. Der Wandel wird zukünftig nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein. Um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Unternehmen flexibel sein und adäquat sowohl auf kurzfristig als auch langfristig wirkende Veränderungen reagieren können.

In diesem Zusammenhang rückt immer häufiger der Begriff des Digitalen Zwillings – dem virtuellen Abbild der Realität – in das Zentrum des Interesses. Je nach Fokus können hierbei Produkte, Produktionsanlagen oder auch ganze Fabriken digital abgebildet werden.

Eine Studie des Marktforschungsinstituts Grand View Research aus dem März 2022 ergab, dass die Investitionen in Digitale Zwillinge bis 2030 ein globales Volumen von rund 156 Milliarden USD erreichen werden, was einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate (CAGR) von 39,1 Prozent entspräche [1]. Im Jahr 2021 führten die Sektoren Automobil und Transport den Markt an und hatten den größten Umsatzanteil von mehr als 19 Prozent des Gesamtumsatzes. Dies resultiert aus den großen Innovationen bei elektrischen und vernetzten Fahrzeugen [1]. Zudem entfiel 2021 der höchste Umsatzanteil am Weltmarkt auf sogenannte „Systemzwillinge“, welche eine Kombination aus mehreren Betriebsmitteln darstellen und so ganze Arbeitssysteme abbilden. Zurückführen lässt sich dies auf den hohen Einsatz Digitaler Zwillinge für den Entwurf und die Entwicklung von Prototypen von Triebwerken für die Luft- und Raumfahrt, Montagelinien, Kommunikationssystemen, maßstabsgetreuen Automobilmodellen, Rohrleitungssystemen in der Öl- und Gasindustrie und anderen Anwendungen [1].

Unterstützung durch Industrial Engineering

Der Digitale Fabrikzwilling, bei dem es sich um einen Systemzwilling handelt, bietet somit ein großes Potenzial für Unternehmen, da mit diesem die gesamte Wertschöpfungskette abgebildet und gegebenenfalls auch gesteuert werden kann. Hierbei muss das reale Gegenstück des Digitalen Fabrikzwillings noch nicht zwingend existieren – zukünftige Arbeitssysteme und Prozesse können so risikolos getestet werden, ohne den operativen Betrieb zu gefährden. Die Implementierung eines Digitalen Fabrikzwillings im Unternehmen ist allerdings mehr als ein reines IT-Thema. Zu berücksichtigen sind dabei unter anderem auch folgende Aspekte:

Ein Digitaler Fabrikzwilling kann nur dann erfolgreich und nachhaltig eingeführt werden, wenn das Unternehmen einen gewissen Reifegrad erreicht hat und über ein stabiles Produktionssystem mit klar definierten und beherrschten Prozessen verfügt (i.A.a. [2]). Vor diesem Hintergrund werden sich viele Unternehmen im Zuge der Einführung eines Digitalen Fabrikzwillings zwangsläufig mit der Gestaltung ihrer Prozesse und ihres Produktionssystems aus­einander­setzen müssen.  Gleichzeitig ist es notwendig, existierende Arbeitsdaten zu überprüfen und bei Bedarf zu aktualisieren oder neue Arbeitsdaten zu erheben. Hier ist das Industrial Engineering gefragt, dessen Kernaufgabe die Gestaltung von Prozessen und Produktionssystemen ist. Wer es bereits zu Beginn der Planung eines Digitalen Zwillings mit einbindet, kann während des gesamten Planungs- und Implementierungsprozesses von den unterstützenden Methoden profitieren.

Darüber hinaus ist ein durchgängiges Datenmanagement für den Erfolg des Digitalen Fabrikzwillings erforderlich. Dies beinhaltet sowohl die Bereitstellung der benötigten Daten wie auch die Sicherstellung der Datenqualität. Basiert der Digitale Fabrikzwilling auf fehlerhaften, veralteten oder unvollständigen Daten, so bildet dieser die Realität nur unzureichend ab und erfüllt dann nicht die beabsichtigte Zielsetzung. Aus diesem Grund bedarf es eines Arbeitsdatenmanagers (im Sinne eines Verwalters oder Kümmerers), der die erforderlichen Arbeitsdaten identifiziert, die Rahmenbedingungen für das Arbeitsdatenmanagement schafft, die Validität der Daten prüft und Datenschutz sowie Privacy gewährleistet. Aus diesen Gründen wird auch der Industrial Engineer weiterhin gefragt und gefordert sein.

Aus diesen neuen Aufgaben für das Industrial Engineering resultiert, dass IT-Kompetenz zukünftig als Fach- und Methodenkompetenz für das Industrial Engineering zunehmend an Bedeutung gewinnen wird. Unter dem Begriff der IT-Kompetenz werden hier diejenigen Kompetenzen verstanden, „die gebraucht werden um

  • ITK-(Informations- und Telekommunikationstechnologie)Projekte und -Prozesse zu entwickeln, zu betreiben und zu leiten,
  • Informations- und Telekommunikationstechnologie zu verwerten und zu nutzen,
  • Entscheidungen zu treffen und Strategien zu entwickeln und
  • neue Szenarien und Trends vorauszusehen.“ [3]

Vor diesem Hintergrund muss der Industrial Engineer auch die Beschäftigten im Unternehmen auf die Interaktion und den Umgang mit dem Digitalen Fabrikzwilling vorbereiten. Es ist wichtig, dass dies differenziert erfolgt: Während der Geschäftsführung Nutzen und Funktionsweise des Digitalen Fabrikzwillings vermittelt werden müssen, damit diese Entscheidungen über neue Lösungen adäquat treffen kann, müssen den Planern und operativen Mitarbeitern die Vor- und Nachteile aufgezeigt werden, um Widerstände bei der Umsetzung zu vermeiden. Es gilt, ein entsprechendes Qualifizierungskonzept zu entwickeln, welches stets betriebsspezifisch ist.

Beim REFA-Talk am 1. Dezember 2022 möchten wir das Thema „Digitaler Fabrikzwilling – Nur eine Vision oder schon einsatzfähig?“ mit Ihnen diskutieren. Der REFA-Talk ist eine virtuelle Veranstaltungsreihe, bei der wir uns über aktuelle Themen der sich wandelnden Arbeitswelt austauschen. Hierzu laden wir Fachkollegen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Verbänden herzlich ein. Nähere Informationen zum Programm und zur kostenfreien Anmeldung finden Sie hier.

Quellen:

[1] Grand View Research, Inc.: Digital Twin Market Size Worth $155,839.4 Million By 2030. März 2022. https://www.grandviewresearch.com/industry-analysis/digital-twin-market, abgerufen am 17.10.2022.

[2] Stowasser, S. (2015). Deutschland 2015, Deutschland 2020 – wo wachsen wir hin? Betriebspraxis & Arbeitsforschung 22, Ausgabe 223, Februar, 4-9.

[3] Ehrke, M. (2010). European e-Competence Framework - ein europäischer Kompetenzrahmen für ITK Fach- und Führungskräfte. Hrsg.: IG Metall. Hamburg: edp GmbH.

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