Den psychischen Kollaps vermeiden


Den psychischen Kollaps vermeiden

Die Zahl der Berufstätigen mit psychischen Belastungen oder gar Erkrankungen steigt; ebenso die Zahl der Burn-out-Fälle. Solche Nachrichten liest und hört man seit Jahren in den Medien. Und meist lautet die Begründung: Die Arbeitsbelastung in den Betrieben ist gestiegen.

„Das stimmt“, bestätigt Sabine Machwürth. „In vielen Betrieben geht es heute hektischer als früher zu.“ Doch hierin die alleinige Ursache für die gestiegene psychische Belastung vieler Arbeitnehmer zu sehen, „greift zu kurz“, betont die Geschäftsführerin der Unternehmensberatung Machwürth Team International (MTI), Visselhövede. „Unser gesamtes Leben hat sich verändert.“ So werde heute zum Beispiel von den Menschen insgesamt mehr Eigenverantwortung erwartet. Wir sollen für unser Alter vorsorgen. Wir sollen uns weiterbilden. Wir sollen auf unsere Gesundheit achten. Und, und, und …. Auch das trägt dazu bei, dass die Belastung steigt. Doch noch entscheidender ist: „Die Sozialstrukturen in unserer Gesellschaft haben sich verändert.“

Private Unterstützungssysteme fehlen zunehmend

So waren zum Beispiel noch vor wenigen Jahrzehnten in Deutschland Familien mit drei, vier Kindern gang und gäbe. Und wenn der Nachwuchs erwachsen war und selbst eine Familie gründete? Dann geschah dies meist in einer relativen Nähe zum Elternhaus. „Entsprechend groß war das familiäre Unterstützungssystem, aber auch der gewachsene Freundeskreis, auf den man sich im Bedarfsfall stützen konnte“, erklärt Dr. Beate Schütz, Coach aus Lemgo.

Heute hingegen dominieren zumindest in den städtischen Ballungsräumen die Singlehaushalte – auch weil die (Liebes-)Beziehungen brüchiger geworden sind. Und die klassische Vater-Mutter-Kind-Familie? Sie ist schon fast die Ausnahme. An ihre Stelle sind die Alleinerziehenden mit Kindern und Patchworkfamilien getreten. Und was wurde aus den Verwandten, auf die man im Bedarfsfall zurückgreifen konnte? Die existieren oft nicht mehr. Oder wohnen Hunderte Kilometer entfernt.

Auch dies erhöht den Druck unter dem Berufstätige stehen. Denn wegen der fehlenden Unterstützungssysteme werden „oft schon Kleinigkeiten zu einem Stress verursachenden Problem“, weiß Dr. Beate Schütz aus vielen Coachinggesprächen. Zum Beispiel das Paket, das abgeholt werden muss. Oder der angekündigte Handwerkerbesuch. Oder der pädagogische Tag im Kinderhort.

Work-Life-Balance-Konzepte greifen oft zu kurz

Auch Nikola Doll, Coach in Neustadt an der Weinstraße, weiß aufgrund ihrer Beratungspraxis: „Die veränderte Arbeitswelt ist nur einer von vielen Faktoren, die dazu führen, dass heute mehr Berufstätige als früher unter einer großen psychischen Anspannung stehen.“ Deshalb greifen aus ihrer Warte alle betrieblichen Work-Life-Balance-Konzepte zu kurz, die ihren Blick nur auf die Arbeitswelt richten. Ihr Ausgangspunkt müsse vielmehr sein: „Wie leben die Mitarbeitenden heute und mit welchen Anforderungen sind sie aufgrund ihrer Lebenssituation konfrontiert?“

Dasselbe gilt für die Programme zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auch sie greifen laut Sabine Machwürth häufig zu kurz, „weil sie den Fokus primär auf Familien und Alleinerziehende richten“. Dabei stehen Singles oft sogar „stärker unter Strom“ als stolze Väter und Mütter – „unter anderem, weil sie mehr Zeit in die Pflege eines Freundeskreises investieren müssen, der sie emotional trägt“. Das habe gerade wieder die Corona-Pandemie gezeigt, „in der nicht wenige Singles in eine Depression verfielen“.

Dass vielen Berufstätigen ein soziales Unterstützungssystem fehlt, ist laut Dr. Beate Schütz „meist so lange kein Problem wie im Leben alles rund läuft“. Doch wehe die Liebesbeziehung oder Ehe zerbricht. Oder der Lebenspartner oder ein Elternteil wird zum Betreuungsfall. Oder wegen eines Virus wie Corona ist plötzlich Home-Schooling angesagt. Dann geraten viele Berufstätige schnell an ihre Belastungsgrenze.

Individuelle Unterstützung ist häufig nötig

Bei fast allen Burnout-Gefährdeten und -Geschädigten „hat die Überlastung auch private oder persönliche Gründe“, betont denn auch Nikola Doll. Und nennt mehrere Beispiele. Da ist zum Beispiel die Controllerin bei einem IT-Unternehmen, die seit Jahren unter Schlafstörungen leidet – auch weil sie nicht den gewünschten Lebenspartner findet. Oder da ist der Salesmanager und Vater zweier Kinder, der in der Regel nur am Wochenende zuhause ist, weshalb es in seiner Ehe kriselt. Oder da ist die Lehrerin, deren Mutter einen Schlaganfall erlitt und nun einer intensiven Pflege bedarf. Oder da ist der Banker, der aus Karrieregründen in London arbeitet, sich dort aber nicht wohl fühlt und in seinem Beruf keine Erfüllung findet. Bei all diesen Personen hat die Überforderung auch berufliche Gründe, doch nicht nur.

Diesen Zusammenhang haben viele Unternehmen erkannt. Deshalb bieten sie ihren Mitarbeitern ein immer breiteres Spektrum an Unterstützungsmaßnahmen an, um ihr Leben in Balance zu halten. Und viele machen sich auch gezielt Gedanken darüber, wie sie ihre Mitarbeiter entlasten können – zum Beispiel, wenn ein Elternteil zum Pflegefall wird. So existiert zum Beispiel bei der Bausparkasse Schwäbisch Hall eine betriebliche Regelung, dass Mitarbeiter in solchen Situationen eine Auszeit von zwei Jahren und länger nehmen können. Und zunehmend findet man in den Weiterbildungsprogrammen der (Groß-)Unternehmen neben Stressmanagement-Seminaren auch Angebote, die darauf abzielen, die Widerstandskraft der Mitarbeiter zu stärken. Solche Angebote erachtet die Managementberaterin Sabine Machwürth in unserer von rascher Veränderung und sinkender Planbarkeit geprägten modernen Welt im Betriebsalltag zunehmend als unverzichtbar. Denn sonst schlägt das „Gefordert-sein“ der Mitarbeiter nicht selten in ein „Überfordert-sein“ um.

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Zeit- und Selbstmanagement

Ronja Siemens

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