Der Fachkräftemangel und die steigenden Krankenstatistiken – nicht nur wegen Corona – führen in vielen Unternehmen dazu, über eine sogenannte Gesundheitsprämie nachzudenken. Mitarbeiter, Betriebsräte und Gewerkschaften stehen dem Thema Gesundheitsprämie zumeist sehr kritisch gegenüber. Bleibt doch die Frage offen, ob eine solche Prämie die Krankmeldungen wirklich reduzieren kann.
Konflikte bei dem stark polarisierenden und emotionalen Thema Gesundheitsprämie sind quasi vorprogrammiert. Wenn Unternehmen sich dem Thema widmen ist der erste Schritt ein Benchmark mit dem relevanten regionalen Arbeitsmarkt. Dadurch kann festgestellt werden, ob es sich um „gefühlt“ oder statistisch abgesicherte überdurchschnittlich hohe Krankenstände im Unternehmen handelt. Will eine Unternehmensleitung das Thema angehen, sollte mit viel Fingerspitzengefühl in einem vertraulichen Rahmen ein gemeinsames Problemverständnis zwischen Management und Betriebsrat geschaffen werden. Denn nur so lässt sich eine nachhaltige Lösung finden.
Das Thema Gesundheitsprämie ist nicht wirklich für eine Einigungsstelle geeignet. Denn in diesem vertraulichen Kreis sollten auch mögliche betriebliche Gründe für die überdurchschnittlich hohen Fehlzeiten erörtert und möglicherweise Abhilfe geschaffen werden. Es hat sich bewährt, nicht nur bei den Mitarbeitern die Ursache für deren Krankenstand zu suchen, sondern auch mögliche Versäumnisse auf der Unternehmensseite zu eruieren.
Benchmarking gezielt vornehmen
Der Vergleich der Fehlzeitstatistiken mit anderen Unternehmen oder Standorten im Unternehmen ist zum einen auf der gleichen Basis, d. h. z. B. für die Dauer der Lohnfortzahlung oder auch unter Einbeziehung von Langzeitkranken, vorzunehmen. Zum anderen sind die in Abb. 1 aufgeführten Rahmenbedingungen bei der Auswahl der Benchmarking-Partner für einen aussagefähigen Vergleich angemessen zu berücksichtigen. Ist das nur bedingt möglich, sind die unterschiedlichen Rahmenbedingungen spätestens bei der Interpretation der dem Benchmarking zugrundeliegenden Zahlen einzubeziehen, was leider nicht selten konfliktarm und meist sehr emotional verläuft.
Aspekte beim Benchmarking (Auszug) |
Qualifikation der Mitarbeiter, z. B.
|
Schichtsystem
|
Belastungen
|
Geschlecht der Mitarbeiter |
Lebensalter
|
Einhaltung des Dienstplans
|
Vereinbarkeit von
|
Arbeitsverträge
|
Regionaler Arbeitsmarkt |
Abb. 1. Zu berücksichtigende Aspekte beim Benchmarking (Auswahl)
Ein Arbeitgeber – mehrere Standorte
Der Vergleich der Krankheitsquote von mehreren Altenheimen ist auf den ersten Blick einfach, es stellt sich jedoch beim Vergleich innerhalb eines bundesweit arbeitenden Unternehmens die Frage, ob die Statistiken vergleichbar sind, weil die regionalen Arbeitsmärkte oft sehr unterschiedlich sind. Hier kann sich ein Vergleich in der Region anbieten, wenn z. B. Branchen- oder insbesondere Arbeitgeberverbände, aber auch Gewerkschaften über entsprechende statistische Daten verfügen. Bei der Krankheitsquote in einem Krankenhaus kann es interessant sein, für verschiedene Mitarbeitergruppen eigene Statistiken anzufertigen. Bei der Gestaltung einer Anwesenheitsprämie ist abzuwägen, ob eine Differenzierung zwischen den Mitarbeitergruppen sinnvoll ist oder ob eine potentiell unterschiedliche mitarbeitergruppenbezogene Anwesenheitsprämie „zerredet“ wird.
Anwesenheitsprämien passgenau gestalten
Das Lohnfortzahlungsgesetz gibt im § 4a LFZG vor, dass der Arbeitgeber, der seinen Mitarbeitern zusätzlich zum vereinbarten Arbeitsentgelt eine Sondervergütung zahlt, diese für jeden Krankheitstag des Mitarbeiters um bis zu 25 Prozent seines Tagesverdienstes reduzieren kann bis die Sondervergütung aufgezehrt ist. Würde diese Regelung z. B. mit einem zusätzlichen Arbeitsentgelt von z. B. 50 Prozent eines Monatsgehaltes umgesetzt, dann wäre das legal, aber gegebenenfalls noch lange nicht zielführend, weil sie nicht passgenau auf die betriebliche Situation zugeschnitten ist.
Gemeinsam erarbeiten – gerecht gestalten – fair umsetzen
Bei diesem sensiblen Thema hat es sich – wie in vielen anderen Vergütungsprojekten – bewährt, dass nach einem vertraulichen Gespräch, in dem eine gemeinsame Sicht auf den Krankenstand und seine Senkung festgestellt wurde, die Gesundheitsprämie wie folgt erarbeitet wird:
- gemeinsam erarbeiten
- gerecht gestalten
- fair umsetzen
Es reicht nicht, dass – wie schon erlebt – der geschäftsführende Gesellschafter eines Unternehmens vom Betriebsrat fordert, den Krankenstand im 4-Schichtbetrieb von Frauen und Männern mittels einer Anwesenheitsprämie auf 6 Prozent zu senken. Im vorliegenden Fall fragte der Betriebsrat den geschäftsführenden Gesellschafter, ob er nicht wisse, dass der Krankenstand seit Jahren bei ca. 4,8 Prozent liegt und eine Anwesenheitsprämie wenig Wirkung entfalten könnte. Im Gegenteil, die Loyalität der Mitarbeiter und ihre Identifikation mit dem Unternehmen würden untergraben.
An den nachfolgenden Beispielen werden drei passgenaue betriebliche Anwesenheitsprämien beschrieben.
Beispiel 1: Mittelständisches Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie
Das mittelständische Unternehmen arbeitet seit den 1970er-Jahren mit einem hohen Anteil von Mitarbeitern mit Migrationshintergrund in der drei- und z. T. vierschichtigen Produktion. Die Erfahrung zeigte, dass die Mitarbeiter gerne ihren Jahresurlaub nutzten, um in die Heimat zu fahren und dort Urlaub zu machen. Nicht selten kam es am Urlaubsort zu mehrwöchigen Krankschreibungen, die den Urlaub verlängerten. Im Unternehmen fehlten die Mitarbeiter. Die geschäftsführenden Gesellschafter erarbeiteten eine Anwesenheitsprämie, die zum Inhalt hatte, dass jeder Mitarbeiter im Jahr fünf Tage krank sein konnte, ohne dass es Auswirkungen auf das Entgelt hatte. Ab dem sechsten Krankheitstag wurde je Krankheitstag die Anwesenheitsprämie um 20 Prozent des Tagesverdienstes reduziert. Wurde ein Mitarbeiter ein ganzes Jahr nicht krank, konnte er seine „nicht genommenen fünf Krankheitstage“ mit ins nächste Jahr nehmen. Wäre er im Folgejahr krank geworden, dann hätte er die ersten 10 Tage keine Reduktion der Anwesenheitsprämie gehabt. Diese bewährte Regelung wurde auch in den Haustarifvertrag, der im Jahr 2015 mit der IG Metall abgeschlossen wurde, übernommen, weil sie von der Belegschaft akzeptiert und nicht als unfair erlebt wurde.
Beispiel 2: Hersteller von Fahrzeugauflegern
Im Jahr 1996 regelte das Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG), dass Mitarbeiter statt bisher 100 Prozent nur noch 80 Prozent ihrer Vergütung als Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erhalten oder alternativ, wenn sie eine Woche krank sind, einen Tag Urlaub nehmen müssen. Der Krankenstand ging bundesweit zurück. Zum 01.01.1999 wurde diese Regelung wieder aufgehoben. Der geschäftsführende Gesellschafter eines Unternehmens, das an drei Standorten Fahrzeugaufleger oder -hänger mit zusammen ca. 6.500 Mitarbeitern herstellt, wollte nach der Abschaffung dieser Regelung seinen Mitarbeitern wieder einen Anreiz geben, weniger krank zu sein. In harten Auseinandersetzungen mit den drei Betriebsräten, die sich nicht immer einig waren, wurde die freiwillige übertarifliche jährliche Gewinnbeteiligung ab 1999 in Abhängigkeit der Krankheitstage ausgezahlt. Ausgehend von der durchschnittlichen Ist-Jahresarbeitszeit wurde die durchschnittliche Gewinnbeteiligung pro Mitarbeiter errechnet. Den Mitarbeitern wurde dann entsprechend ihres Beitrags zum Unternehmenserfolg – gemessen in den individuellen Anwesenheitstagen – ihre Gewinnbeteiligung ausgezahlt. Dabei wurden die Durchschnitte für Mitarbeitergruppen der gewerblichen Arbeitnehmer und Angestellten, deren Krankheitsrisiko bei der Arbeit unterschiedlich hoch ist, unterschieden. Ein Betriebsrat formulierte es einmal so: „Wenn ein Hammer von der Werkbank fällt ist das gefährlicher, als wenn ein Bleistift vom Schreibtisch fällt“. Der Krankenstand ging aufgrund der Erfolgsbeteiligung unter Berücksichtigung der individuellen Anwesenheitstage ab der Einführung nachhaltig um ca. 1,5 Prozent zurück.
Beispiel 3: Ambulanter Krankenpflegedienst
Der geschäftsführende Gesellschafter eines ambulanten Krankenpflegdienstes mit rund 120 Mitarbeitern an drei Standorten ärgerte sich über die Mitarbeiter, die im Umfeld des Wochenendes 1-2 Tage krank wurden und so ihre Wochenenden verlängerten. Den Kollegen ging es ebenso, einige schlossen schon Wetten ab, ob ein Kollege am nächsten Wochenende krank wird oder nicht. Im Kontext der Überarbeitung des betrieblichen Lohnsystems wurde mit dem Betriebsrat eine Anwesenheitsprämie erarbeitet. Die Mitarbeiter konnten im Halbjahr zusätzlich 200 Euro verdienen, wenn sie nicht krank wurden. Pro Krankheitstag wurden dem Mitarbeiter 20 Euro abgezogen, d. h. bei 10 Krankheitstagen war die Anwesenheitsprämie bei „null“. Langzeitkranken wurden somit maximal 200 Euro im Halbjahr abgezogen. Die Anwesenheitsprämie wurde von den Mitarbeitern nicht nur akzeptiert, sondern begrüßt. Der Krankenstand sank in den Jahren nach der Einführung im Jahr 2004 um ca. 2 Prozent. Aufgrund dieses Erfolgs gab der Unternehmer ab dem Jahr 2007 jedem Mitarbeiter, der im Kalenderjahr nicht krank war, zusätzlich drei Tage bezahlten Sonderurlaub.
Fazit
Ziel der beschriebenen Anwesenheitsprämien war es immer, eine passgenaue Lösung auf die betriebliche Situation – unter Beteiligung der Betroffenen – zu erarbeiten und fair umzusetzen. Die Anwesenheitsprämie musste im betrieblichen Kontext als gerecht erlebt werden, sozusagen ein „Good Pay“ sein. Dabei war es wichtig einen positiven Anreiz für die Mitarbeiter zu schaffen und sie nicht zu bestrafen. Die Anwesenheitsprämie muss – so zeigt die Erfahrung – von der Unternehmenskultur getragen werden.
Ockenfels, den 13.04.2022
Eckhard Eyer