Pflege 4.0: Rationalisierung und Pflegenotstand


Verfasser: Eckhard Eyer, Perspektive Eyer Consulting, Ockenfels

Der Pflegenotstand ist in Deutschland in aller Munde und auf der Agenda der „großen Politik“ angekommen. Politik, Produzenten von Technik und Software sowie einige Verbände versprechen sich von der Digitalisierung der Pflege, der „Pflege 4.0“, eine Entlastung der Pflegekräfte und eine Entspannung auf dem Arbeitsmarkt Pflege.

Die Politik folgt hierbei dem in der Industrie seit Jahrhunderten bewährten Prinzip der Rationalisierung: Menschliche Arbeit wird durch Maschinenarbeit ersetzt! Es werden weniger Menschen benötigt, um die gleiche Arbeit zu erledigen. Die Arbeitsproduktivität der Menschen steigt durch den Technikeinsatz, die Digitalisierung. Der Arbeitsmarkt Pflege wird entlastet, der Pflegenotstand gelindert, so die Argumentationskette. Widerstände gegen die Digitalisierung und Rationalisierung gibt es nicht, weil ein Pflegenotstand herrscht, der zukünftig größer wird und die Pflegekräfte der begrenzende Wachstumsfaktor sind.

Erfolge der Rationalisierung

Die Folgen der Rationalisierung aufgrund der höheren Arbeitsproduktivität können sein

  • ein geringerer Bedarf an Pflegekräften bei gleichem Pflegestandard/-niveau oder
  • eine verbesserte und intensivere Betreuung der Patienten und Bewohner bei gleicher Personalbemessung oder
  • eine Kombination von beidem: eine verbesserte Pflege bei einem geringeren Bedarf an Mitarbeitern.

Spannend ist, wie die Kunden und Mitarbeiter über die Rationalisierung und die Verwendung der Erträge der Rationalisierung denken: Weniger Mitarbeiter einsetzen oder mehr Zeit für die Patienten und Bewohner haben?

Digitalisierung aus Sicht der Kunden und Mitarbeiter

Die Erfahrung zeigt, dass Patienten und Bewohner – individuell verschieden – den Einsatz von Technik wünschen, so lange sie ihnen mehr Sicherheit und Selbstständigkeit gibt. Wenn die Technik den Kontakt zu Menschen, Fürsorge und Nähe substituieren soll, dann kommt der Technikeinsatz an seine Grenzen. So haben die Mitarbeiter einerseits Vorbehalte gegenüber dem Technikeinsatz in der Pflege, wenn dieser die menschliche Arbeit und menschliche Nähe ersetzt. Andererseits wünschen sie sich eine Entlastung durch die Technik, um ihren Arbeitsalltag besser bewältigen und die eigene Gesundheit und Arbeitsfähigkeit langfristig erhalten zu können.

Finanzierung der Digitalisierung

In dem Vorbild für die Rationalisierung – der Industriearbeit – wird die eingesetzte Technik durch die eingesparten Löhne und Gehälter finanziert. Die Technik amortisiert sich in relativ kurzer Zeit. Umgangssprachlich heißt es: Der Technikeinsatz rechnet sich!

In den Bereichen der Pflege, in denen keine Vorgaben für die Personalbemessung bestehen, wie z. B. Verwaltung, Hauswirtschaft, Materialwirtschaft und Reinigung, kann dieses Prinzip erfolgreich umgesetzt und die Digitalisierung durch die eingesparten Löhne und Gehälter finanziert werden. Dort, wo eine gesetzlich vorgeschriebene Personalbemessung z. B. durch Pflegeschlüssel existiert, können durch den Technikeinsatz keine Löhne und Gehälter eingespart werden. Der Technikeinsatz führt in diesen Fällen zu Zusatzkosten, die durch die Kunden und/oder ihre Versicherungen (z. B. Pflegeversicherung) bezahlt werden müssen. Den erhöhten Kosten für die Technik steht in diesem Fall – so die Argumentationskette – eine verbesserte Betreuung der Patienten und Bewohner sowie eine geringere Belastung der Mitarbeiter gegenüber. Die geringere Belastung führt zu einer längeren Arbeitsfähigkeit und damit verbunden mittel- und langfristig einer Entlastung des Arbeitsmarktes Pflege.

Fazit

Die Pflege 4.0 kann mittel- und langfristig durch den Erhalt der Arbeits- und Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter in der Pflege zu einer gewissen Linderung des Pflegenotstandes beitragen. Unter der Prämisse einer vorgegebenen Personalbemessung führt die Digitalisierung der Pflege zu Mehrkosten für die Patienten, die Bewohner und deren Versicherungen, die mit einer verbesserten Pflege einher gehen kann.

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