Not macht erfinderisch
1972, die Olympiade stand bevor, war der Zuzug von Mitarbeitern mit Migrationshintergrund in den damaligen Boom-Regionen Rhein-Ruhr, Köln, Rhein-Main, Stuttgart und München besonders groß. Programme zur Qualifikation und Integration der neuen Mitarbeiter waren nicht vorhanden, schließlich war Deutschland kein Einwanderungsland und man ging davon aus, dass die Mitarbeiter nur vorübergehend aushelfen würden, um dann in ihr Heimatland zurückzugehen. Die Bezeichnung „Gastarbeiter“ unterstrich diesen Gedanken. Aber auch diese Mitarbeiter mussten einkaufen, einen Mietvertrag abschließen und sich im Leben in Deutschland zurechtfinden. Schulbücher „Deutsch für Ausländer“, zugeschnitten auf die Zielgruppe von Erwachsenen, die nicht zum Studium in Deutschland waren, gab es praktisch nicht, Angebote von Volkshochschulen ebenso wenig.
Der Vorgesetzte als Sprachlehrer
Innovative Unternehmen wie BMW in München und die Chemischen Werke Hoechst in Frankfurt stellten dieses Defizit fest und qualifizierten ihre Mitarbeiter in der deutschen Sprache für den deutschen Alltag. Sie nannten das Konzept “Lernstatt“ – abgeleitet von „Lernen in der Werkstatt“. Meister qualifizierten ihre neuen Mitarbeiter und diese lernten auch gleich den passenden deutschen Dialekt. In der Lernstatt wurde auch erklärt wie die Fabrik funktioniert, wie Qualität produziert wird und welchen Beitrag der einzelne Mitarbeiter dazu leisten kann. BMW und Hoechst stellten nach einigen Jahren fest, dass Mitarbeiter mit Migrationshintergrund die Fabrik oftmals besser kannten und die Prozesse besser erklären konnten, als die langjährigen einheimischen Mitarbeiter. Sie dehnten daraufhin die Lernstatt auf alle Mitarbeiter als Baustein der Personal- und Organisationsentwicklung aus und schafften es so, die Produktionsprozesse und die Produktqualität zu verbessern und stetig weiterzuentwickeln.
Erprobte Gestaltung der Lernstatt
Wie organisierten die Unternehmen damals die Lernstatt? Pro Woche setzte man eins bis zwei Stunden zur Unterrichtung an, diese Zeit zählte für die „Lehrer“ als Arbeitszeit, wobei der Unterricht außerhalb der Schichtzeit lag, damit die Maschinen weiterlaufen konnten. Die Lernstatt hatte einen hohen Stellenwert für die Zusammenarbeit im Team und die Identifikation aller Mitarbeiter im Unternehmen. Die Ausgangssituation im Jahr 2020 ist besser als vor 50 Jahren, aber die Lernstatt ist trotzdem ein wichtiges Instrument der Personal- und Organisationsentwicklung – nicht zuletzt zur Integration und Bindung neuer Mitarbeiter.
Verfasser: Eckhard Eyer, Perspektive Eyer Consulting, Ockenfels