Der Begriff „Muri“ stammt aus dem Japanischen und kann mit „Überbeanspruchung“ oder „Überlastung“ ins Deutsche übersetzt werden. Zusammen mit den Begriffen „Muda“, Verschwendung, und „Mura“, was so viel bedeutet wie „Unausgewogenheit“, „Unausgeglichenheit“ oder „fehlende Abstimmung“, bildet Muri die „drei Mus“, die in der Lean-Philosophie eng miteinander verknüpft sind. In welcher komplexen Form sich Muda, Mura und Muri, auch als „3M“ bezeichnet, gegenseitig beeinflussen und insgesamt die Produktivität von Arbeitsprozessen vermindern, zeigt das Toyota-3M-Modell auf. Die Vermeidung von Verschwendung, Unausgewogenheit und Überlastung ist einer der Kernaspekte der Lean Production, die mit dem Toyota Produktionssystem (TPS) realisiert wurde.
Das Ziel: Verschwendung minimieren
Jede Art von Verschwendung senkt die Effizienz von Prozessen und mindert die Produktivität. Das gilt für alle Abläufe und Tätigkeiten bei der Erstellung von Sach- oder Dienstleistungen, ob in der Produktion, im Handwerk, in der Verwaltung oder in anderen soziotechnischen Organisationen und Einrichtungen.
Die 3M sind Zeichen dieser Vergeudung wertvoller Ressourcen: Muda steht für die klassischen sieben Arten von Verschwendung – Wartezeiten, vermeidbare Transporte, überflüssige Bewegungen, Überproduktion, zu hohe Bestände, falsche Prozesse oder zu komplexe Technologien sowie Fehlteile. Ergänzt werden sie zunehmend durch eine personelle und eine informatorische Komponente: den mangelnden Einbezug der Kompetenzen von Mitarbeitern sowie die ungenügende Kommunikation. Dazu kommen Mura als fehlende Abstimmung, also eine nicht optimale Prozessführung, sowie Muri als Überlastung oder Überbeanspruchung, die zu Fehlern führt und daher einen unnötigen Verbrauch von Ressourcen darstellt.
Hier setzt die Lean-Philosophie an. Auf allen Ebenen und bei allen Vorgängen sind die 3M zu vermeiden, um den Wertstrom nicht ins Stocken geraten zu lassen, Kundenbedürfnisse möglichst schnell zu befriedigen und die Wertschöpfung zu maximieren. Nur so lässt sich das volle Potenzial der materiellen und immateriellen Ressourcen – der Produktionsfaktoren – ausschöpfen und eine hohe Effizienz erreichen. Dabei ist die Lean-Philosophie, das Lean Management, in allen Bereichen umsetzbar – von der Entwicklung über die Produktion bis zur Logistik, vom Büro über die Verwaltung bis zum Bereich Medizin und Pflege.
Der Zusammenhang zwischen Muda, Mura und Muri
Verschwendung, Muda, hat viele Ursachen und kann durch Mura, fehlende Abstimmung der Prozesse, und Muri, Überbeanspruchung der Produktionsfaktoren, noch verstärkt werden.
Sind Abläufe in der Produktion, bei der Erstellung von Dienstleistungen oder bei Verwaltungsakten nicht aufeinander abgestimmt oder können Kundenanforderungen nicht im gewünschten Maß erfüllt werden, ist die Prozessqualität ungenügend. Durch die fehlende Koordination entstehen Warte- und Stillstandszeiten durch Leerlauf oder Stau, überbeanspruchte Puffer, nicht ausreichend bestückte Zwischenlager oder zusätzliche Wege. Mura, die mangelhafte Abstimmung, führt so zu Muda, der Verschwendung. Aber Muda kann auch helfen, Mura abzufedern – zumindest kurzfristig. Überbestände (Muda) beispielsweise befriedigen unter Umständen die erhöhte Nachfrage nach einem Sachgut, wenn die – nicht optimal gestaltete – Produktion (Mura) ausgelastet ist. Dies kann aber auch zu Muri führen – wenn die Fertigung trotz eigentlich nicht ausreichender Kapazitäten über eine Verringerung der Taktzeiten hochgefahren wird und damit Anlagen und Personal überlastet werden.
Muda und Mura können sich also auf zwei Ebenen auswirken – auf Mensch und Maschine:
- Die Beschäftigten müssen durch erhöhten persönlichen Einsatz Arbeitsspitzen abfedern. Auf Dauer führt diese (Über-)Beanspruchung zu physischen und psychischen Folgen, zu einer Belastung. Resultat ist eine steigende Anzahl von Fehlern. Es gibt Qualitätsmängel und nicht brauchbare Ergebnisse und damit Muda, Verschwendung.
- Anlagen und Gerätschaften werden zur Erfüllung der Vorgaben kontinuierlich mit grenzwertig hoher Auslastung gefahren. Der Verschleiß wird größer, die Maßhaltigkeit der gefertigten Teile leidet. Die Dauerbelastung führt so zu Defekten, zu Qualitätseinbußen bei den Produkten und zu unproduktiven Ausfallzeiten – also Muda, Verschwendung.
Mensch und Maschine – die beiden Ebenen von Muri
Eine Überbeanspruchung oder Überlastung, Muri, kann also auf der Ebene Mensch – bei Tätigkeiten – und auf der Ebene Maschine – bei Fertigungs- und Verarbeitungsprozessen – auftreten.
Der Faktor Mensch
Menschen, die dauerhaft über- oder fehlbeansprucht werden, sind nach einiger Zeit körperlich und/oder mental belastet. Wann Muri, die Überbeanspruchung oder Überlastung, auftritt, ist individuell unterschiedlich – je nach persönlicher Konstitution, Leistungsfähigkeit und Motivation. Betroffen sind aber nicht nur Mitarbeiter in der Produktion, in Handwerks- und Dienstleistungsbetrieben oder in der Verwaltung, sondern ebenso Führungskräfte aller Ebenen. Bekannt ist das Phänomen des Burn-outs, früher „Managerkrankheit“ genannt.
Zu unterscheiden ist hier nach psychologischen Bedingungen und physiologischer Leistungsfähigkeit, also nach psychischen und körperlichen Beanspruchungen durch die Arbeit.
- Eine psychische Belastung kann unterschiedlichste Ursachen haben. Typisch sind folgende Punkte:
- Kompetenzdefizite aufgrund falscher oder nicht genügender Qualifikation der Person für die auszuführende Tätigkeit;
- Übernahme oder Delegation von (zu großer) Verantwortung;
- Überforderung durch Termin- oder Zeitdruck;
- mangelhafte Kommunikation und Information;
- defizitäre Sozialkontakte oder schlechtes Betriebsklima;
- niedriger Motivationsgrad oder geringes Selbstwertgefühl;
- ungeklärte Kompetenzen, Zuständig- und Verantwortlichkeiten in der Ablauforganisation;
- häufige Störungen im Arbeitsablauf oder permanente Erreichbarkeit.
- Auch eine körperliche Überbeanspruchung kann auf vielen Faktoren beruhen, beispielsweise:
- zu geringe Kraft und Ausdauer für die auszuführende Tätigkeit;
- körperliche Einschränkungen betreffend Bewegungsfähigkeit, Schnelligkeit oder Reaktionszeiten;
- mangelnde Koordinationsfähigkeiten (etwa Hand-Auge-Koordination);
- Einschränkungen bei den kognitiven Fähigkeiten, also der sinnlichen Wahrnehmung und der Verarbeitung der Reize;
- Umgebungsbedingungen wie Lärm, Vibrationen und Gefahrstoffe, aber auch Temperatur, Feuchtigkeit, Lichtverhältnisse, Farben oder Gerüche;
- vorhandene Krankheiten.
Muri entsteht zum Beispiel, wenn Beschäftigte die unzureichende Abstimmung der Arbeitsabläufe (Mura) und die daraus resultierende Verschwendung (Muda) durch schnelleres Arbeiten oder durch Mehrarbeit auffangen und abfedern müssen. Beispiele für nicht abgestimmte Prozesse sind etwa ein unvorteilhaftes Anlagenlayout, nicht ergonomisch ausgestattete Arbeitsplätze oder unproduktive Transporte und lange Wegstrecken. Termin- und Leistungsdruck sind die Folge. Die wachsende Anspannung führt vermehrt zu Fehlern und reduziert die Qualität der Ergebnisse. Die Verschwendung – Muda – nimmt zu, ebenso wie die psychische und körperliche zunächst Beanspruchung und dann Be- und Überlastung (Muri). Typische Symptome sind Übermüdung, Stress, Depressionen und andere Krankheiten, Fehltage werden häufiger, das Arbeitsklima leidet, die Fluktuation steigt.
Der Faktor Maschine
Werden die Kapazitäten von Maschinen und Anlagen ständig ausgereizt, ist deren Beanspruchung (Muri) so groß, dass die Lebensdauer sinkt. Denn werden die Gerätschaften zur Erfüllung der Soll-Vorgaben ständig mit grenzwertig hoher Auslastung gefahren, kommt es schnell zu Materialermüdung und hohem Verschleiß; die Passgenauigkeit und Maßhaltigkeit der gefertigten Teile verringert sich und es treten vermehrt Störungen auf. Auch die bei der Berücksichtigung individueller Kundenanforderungen beispielsweise in der Fertigung notwendigen häufigen Umrüst- und Einrichtarbeiten können zu einer Überbeanspruchung – Muri – von Werkzeugen oder von Teilen der eingesetzten Maschinen führen. Zudem kommt es dabei zu Zeitverlusten, die kompensiert werden müssen – von den Beschäftigten. Störungen und Defekte, also unproduktive Ausfallzeiten, sowie Qualitätseinbußen bei den Ergebnissen sind die Folge. Muri führt also auch hier zu Muda.
Wie kann Muri reduziert werden?
Muri kann bereits bei der Planung von Prozessen und durch die Wahl der Ausstattungsgegenstände reduziert werden – dies ist die nachhaltigste Methode. Nicht nur in der Fertigung gilt: Ein gutes Layout der Arbeitsstätte und eine ergonomische Einrichtung der Arbeitsplätze verringert die Beanspruchung der Beschäftigten – und gleichzeitig auch Mura und Muda. Eine vorausschauende Planung zahlt sich – auch finanziell – aus, da sie langfristig alle Abläufe erleichtert, die Durchlaufzeiten verringert, die Wertschöpfung steigert und damit die Effizienz erhöht.
Bestehende Prozesse sollten einfacher und übersichtlicher gestaltet werden. Im Rahmen der Komplexitätsreduktion bei der Prozessoptimierung sollte generell die Anzahl an Arbeitsschritten vermindert werden, um die Abstimmung der Abläufe zu erleichtern. Dies ermöglicht es den Mitarbeitern, den Überblick über nicht nur ihre eigene Tätigkeit, sondern auch über die der anderen Beteiligten zu behalten. Unterstützt werden kann dies durch weitere Maßnahmen zur Verringerung von Muri, gemäß Lean-Philosophie im Einklang mit der Erweiterung des Verantwortungsbereichs und der Kompetenzen der Beschäftigten als „Experten vor Ort“, am Gemba, dem Ort des Geschehens. Als Möglichkeiten geprüft werden sollten:
- die Standardisierung von Arbeiten;
- die Einführung von Kanban oder Andon als Kommunikations- und Steuerungsinstrumente;
- das 5S- bzw. 6S-Konzept zur Gestaltung der einzelnen Arbeitsplätze (Seiri: Aussortieren, Seiton: Aufräumen, Seisô: Sauberkeit, Seiketsu: Zustandserhaltung, Shitsuke: Selbstdisziplin sowie Shûkan: Automatisierung);
- Jidoka als „Not-Halt-Einrichtung“ für eine sofortige Abschaltung der Anlage.
Führungskräfte sollten ihre Mitarbeiter für die Einführung dieser Maßnahmen als Anwendung der Prinzipien des Lean Managements begeistern und sie über Schulungen zur Umsetzung motivieren.
Auf Ebene der Maschinen und Anlagen kann Muri durch die Einführung der Total Productive Maintenance (TPM) verringert werden. Diese Instandhaltungsstrategie hat sich etabliert, um Laufzeiten zu erhöhen und Ausfälle durch Störungen und Defekte zu minimieren. Unterschieden wird dabei zwischen der korrektiven, der präventiven und der autonomen Wartung bzw. Instandsetzung:
- In der ersten Stufe, der korrektiven Instandhaltung, wird nur auf Störfälle reagiert. So lassen sich zwar Stillstandszeiten und Produktionsausfälle minimieren, aber das Vorgehen ist nicht nachhaltig, da es weder die Maschinenlaufzeiten verlängert noch die Prozessqualität verbessert.
- Die zweite Stufe wird erreicht mit der regelmäßigen Kontrolle der Fertigungsanlagen samt präventivem Austausch der absehbar nur noch begrenzt einsatzfähigen Teile: Dies reduziert die Beanspruchung und verhindert eine Überlastung, also Muri.
- Die dritte Stufe ist die autonome Instandhaltung. Die beteiligten Mitarbeiter beurteilen selbst als Experten an ihrer Anlage deren Zustand und entscheiden über vorbeugende Maßnahmen wie etwa Wartungsintervalle. Erforderlich sind dazu qualifizierte und motivierte Mitarbeiter mit eigenem Verantwortungsbereich – dann ist der Effekt am größten.
Fazit
Organisationen betrachten bei der Optimierung von Prozessen oft nur einzelne Abläufe, um diese effizienter zu gestalten und die Wertschöpfung zu erhöhen. Sie versuchen dabei also – gemäß Lean-Ansatz –, Verschwendung, Muda, zu reduzieren. Doch Muda ergibt sich indirekt auch aus nicht aufeinander abgestimmten Vorgehensweisen, Mura, und einer Überlastung der Produktionsfaktoren, Muri. Die 3M sind also im Zusammenhang zu sehen, da sie sich gegenseitig beeinflussen.
Die Überlastung kann sich auf Mensch und Maschine auswirken und verschiedene Arten von Verschwendung verursachen. Die Folgen von Muri können schwerwiegend sein. Beim Menschen können hohe Dauerbeanspruchungen zu psychischen und physische Belastungen führen, bei technischen Einrichtungen übermäßigen Verschleiß bedingen und Störungen hervorrufen.
Nachhaltig begrenzt werden kann Muri bereits in der Planungsphase von Abläufen und durch das Layout und die Einrichtung der Arbeitsumgebung. Bestehende Prozesse sollten vereinfacht und übersichtlicher gestaltet werden, um Vorgänge und Tätigkeiten zu entzerren. Das Personal sollte eigenverantwortlich und autonom reagieren und muss entsprechend motiviert und geschult werden. Auf technischer Ebene hilft die Total Productive Maintenance durch mindestens präventive Unterhaltsmaßnahmen, die Laufzeit der Anlagen zu verlängern und Störfälle, die wiederum zu Arbeitsspitzen führen, zu vermeiden.
Die Minimierung der Überbeanspruchung (Muri) erleichtert die Abstimmung von Prozessen (Mura) und kann Verschwendung (Muda) durch Prozessoptimierung vorbeugen. Muri sollte daher Muda immer vorangehen.