
Die drei Mus
Insbesondere im industriellen Umfeld, in produzierenden Unternehmen, wird Muri oft zusammen mit den Begriffen „Muda“, Verschwendung, und „Mura“, mangelnde Abstimmung bzw. Unausgeglichenheit oder Unausgewogenheit, verwendet. Denn die „drei Mus“ Muda, Mura und Muri beeinflussen sich gegenseitig; die komplexen Zusammenhänge zeigt das Toyota-3M-Modell auf.
Allen drei Faktoren ist gemein, dass sie den Wertstrom in einer Organisation negativ beeinflussen. Deutlich wird dies insbesondere in produzierenden Unternehmen oder Veredelungsbetrieben, da die Effizienz der wertschöpfenden Prozesse darunter leidet und die Produktivität sinkt. Aber auch bei Dienstleistungsanbietern und Verwaltungseinrichtungen treten Verschwendung, Abstimmungsprobleme und Überlastung auf: Die 3Ms sind allgegenwärtig.
Überlastung von Personal und Technik
Von Muri, Überlastung, betroffen sein können Menschen ebenso wie Maschinen. Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive kann Muri bei den Mitarbeitern während des Arbeitsprozesses bei der Ausführung von Tätigkeiten oder bei der Handhabung von Gerätschaften auftreten. Zu den Tätigkeiten zählen geistige Arbeiten ebenso wie Überwachungs- und Kontrollaufgaben, aber auch schwere körperliche Arbeit. Der Einsatz am Gerät reicht von der Bedienung von Maschinen über handwerkliche Arbeiten bis zum Führen von Fahrzeugen.
Aber auch Maschinen, Anlagen, Geräte, Fahrzeuge und andere technische und bauliche Einrichtungen (vom Regal über die Maschinenhalle bis zum Lkw-Wendeplatz) können überlastet werden. Zu hohe Geschwindigkeiten (Taktfrequenzen), zu lange Laufzeiten (ohne ein taugliches Instandhaltungsmanagement) oder zu hohe einwirkende Kräfte (wie Druck, Temperatur, Feuchtigkeit, Spannung, Beladung, Vibrationen) führen zu Materialermüdung, Versprödung, Alterung oder Verformung und damit letztlich zu Fehlern, Störungen, Stillständen und Ausfällen.
Der Faktor Mensch
Muri entsteht aufseiten des Personals durch fortwährende Über- oder Fehlbeanspruchung. Betroffen sein können alle Mitarbeiter und Führungskräfte in allen Branchen, in Produktions-, Dienstleistungs- und Verwaltungseinrichtungen, und unabhängig von der Größe der Organisation.
Um das Ausmaß der Be- oder Überlastung durch die Arbeit festzustellen, muss zwischen Psyche und Physis unterschieden werden, also zwischen psychischen und körperlichen Beanspruchungen. Ausschlaggebend sind die psychosozialen Bedingungen (nicht nur) am Arbeitsplatz sowie die physiologische Leistungsfähigkeit. Individuell sehr verschieden ist, wann eine Beanspruchung zur Be- und Überlastung wird. Dies hängt von der psychischen und physischen Konstitution der Einzelperson ab.
Psychosoziale Bedingungen
Die Ursachen einer psychischen Überlastung sind vielfältig. Dazu gehören unter anderem:
- mangelnde Kompetenz aufgrund unpassender oder nicht ausreichender Qualifikation für die Ausführung der übertragenen Aufgabe;
- die Zuweisung und Übernahme von (zu großer) Verantwortung;
- eine Überforderung durch Zeit- oder Termindruck;
- Mängel in der Kommunikation und im Informationsfluss;
- fehlende Einbindung in die Sozialstruktur der Organisation;
- schlechtes Arbeits- oder Betriebsklima;
- Motivationsdefizite;
- zu geringes Selbstwertgefühl;
- unklare Schnittstellen, Zuständigkeiten und Kompetenzen;
- häufige Störung des Arbeitsablaufs;
- ständige Erreichbarkeit.
Physiologische Leistungsfähigkeit
Die physiologische Leistungsfähigkeit setzt dem Menschen natürliche – individuelle – Grenzen. Als Ursachen einer körperlichen Überbeanspruchung gelten unter anderem:
- der Mangel an Kraft und Ausdauer für die auszuführende Tätigkeit;
- körperliche Restriktionen wie eingeschränkte Beweglichkeit, fehlende Schnelligkeit oder zu geringe Reaktionsfähigkeit;
- (kognitive) Einschränkungen im Bereich der (Sinnes-)Wahrnehmung;
- belastende Umgebungsbedingungen wie Temperatur, Feuchtigkeit, Licht/Strahlung, Lärm, Vibrationen, Gerüche, Gefahrstoffe;
- bestehende Krankheiten.
Überbeanspruchung entsteht, wenn Mitarbeiter die mangelnde Abstimmung in den Arbeitsabläufen (Mura) oder Einschränkungen aufgrund eines unvorteilhaften oder unergonomischen Anlagen- oder Arbeitsplatz-Layouts (Muda) durch persönlichen Einsatz auffangen und abfedern müssen. Arbeitsspitzen, Mehrarbeit oder schneller getaktete Arbeitsabläufe sind häufig die Folge, Termin- und Leistungsdruck werden aufgebaut. Das Resultat sind eine steigende Fehlerquote und eine geringere Ergebnisqualität – es kommt zur Verschwendung (Muda), da Ausschuss anfällt oder Nacharbeit nötig wird. Auf die psychische und körperliche Be- und Überlastung reagiert der Mensch mit Übermüdung, Stress, Depressionen und anderen Krankheitssymptomen. Es kommt vermehrt zur Arbeitsunfähigkeit, die durch Mehrarbeit der Teammitglieder aufgefangen werden muss. Das Betriebsklima leidet.
Der Faktor Maschine
Werden Maschinen und Anlagen kontinuierlich mit grenzwertig hoher (Takt-)Geschwindigkeit gefahren, bedingt dies übermäßigen Verschleiß, verringerte Passgenauigkeit bei der Teilefertigung, hohe Verbräuche an Energie und Betriebsstoffen (wie Kühl- und Schmiermitteln) sowie Störungen. Auch häufiges Umrüsten, etwa zur Befriedigung individueller Kundenwünsche durch kleine Losgrößen, kann zur Überbeanspruchung durch Abnutzung der Ausrüstung führen – und zudem zu Zeitverlusten, die (von den Beschäftigten) kompensiert werden müssen. Die Dauerbelastung wird sichtbar in Materialermüdung und hoher Abnutzung, in Qualitätseinbußen bei den Produkten und in unproduktiven Stillstands- und Ausfallzeiten. Muri führt auch hier zu Muda.
Muri minimieren: das Lean-Konzept
Eine der Säulen des Lean-Konzepts ist, Verschwendung, Muda, zu vermeiden. Da Muda, Mura und Muri sich gegenseitig bedingen und eng miteinander wechselwirken, ist die Abstimmung aller Produktionsfaktoren aufeinander zu optimieren. So lässt sich dann auch die Überlastung von Mensch und Maschine minimieren. Dieser Grundgedanke des Lean-Ansatzes wird unter anderem im von Taiichi Ohno, dem Produktionsleiter bei Toyota, entwickelten Toyota Produktionssystem (TPS) sichtbar.
Überlastung lässt sich am einfachsten vermeiden durch eine vorausschauende Planung und Organisation von Abläufen. Ob es sich um Produktionsprozesse handelt, um Dienstleistungen oder Verwaltungsakte, ist dabei unerheblich. Schon beim Entwurf des Layouts einer Anlage oder der Entwicklung einer Maschine, vor der Einrichtung eines Arbeitsplatzes oder dem Angebot einer Dienstleistung ist zu überlegen, wie Prozesse möglichst gut koordiniert – also aufeinander abgestimmt – werden können, um Verschwendung und Überlastung zu vermeiden. Die ergonomische Gestaltung von Arbeitsmitteln und Arbeitsplätzen ist dabei ein entscheidender Faktor für ein über- und fehlbelastungsfreies Arbeiten.
Die Mitarbeiter
Bestehende Prozesse sollten vereinfacht und optimiert werden, um durch die Reduktion der Anzahl von Prozessschritten Abläufe übersichtlicher und einfacher zu gestalten. Das Personal behält so eher den Überblick – nicht nur über die jeweils eigenen Tätigkeiten, sondern auch über die an vor- und nachgelagerten Stellen – Muri wird vermieden. Weitere Maßnahmen zur Verringerung von Muri sind beispielsweise:
- die Standardisierung von Arbeiten und Arbeitsmitteln (auch Formularen und Software);
- die Einführung von Kanban oder Andon als Instrumente zur zielgerichteten Kommunikation und Prozesssteuerung;
- die Umsetzung des 5S- bzw. 6S-Konzepts an den Arbeitsplätzen (Seiri: Aussortieren, Seiton: Aufräumen, Seisô: Sauberkeit, Seiketsu: Zustandserhaltung, Shitsuke: Selbstdisziplin und eventuell Shûkan: Automatisierung);
- Jidoka als „Not-Halt-Einrichtung“ bei Zwischen- oder Störfällen.
Die Umsetzung dieser Maßnahmen kann durch Schulung der Mitarbeiter gefördert werden. Führungskräfte sollten ihnen die Lean-Philosophie vermitteln, sie weiter qualifizieren und ihre Kompetenzen erweitern. So motiviert und zu einem eigenverantwortlichen Handeln fähig verliert Muri an Bedeutung.
Die technische Ausstattung
Die Erhöhung der Laufzeiten von Maschinen und Anlagen sowie die Reduktion von Störungen, Stillständen und Ausfällen ist möglich durch die Einführung der Total Productive Maintenance (TPM) – ein etabliertes Mittel zur Reduktion von Muri. Dabei kann zwischen drei Formen des Unterhalts von Gerätschaften differenziert werden: der korrektiven, der präventiven und der autonomen Wartung bzw. Instandsetzung.
- Unter einem korrektiven Instandhaltungsmanagement versteht man die Reaktion auf Störfälle. Diese ist unumgänglich, um Stillstände und damit Produktionsausfälle zu vermeiden. Aber diese Form ist nicht nachhaltig, da weder die Maschinenlaufzeiten verlängert noch die Prozessqualität verbessert werden.
- Erst mit einem präventiven Instandhaltungsmanagement wird die Beanspruchung von Maschinen und Teilen reduziert und Muri verhindert. Dabei werden die Produktions- oder Arbeitsmittel regelmäßig kontrolliert; Teile, die in absehbarer Zeit die Verschleißgrenze erreichen oder aus anderen Gründen den Ansprüchen des Einsatzes nicht mehr genügen, werden ausgetauscht.
- Ein autonomes Instandhaltungsmanagement ist etabliert, wenn die Mitarbeiter vor Ort selbst als Experten den Zustand der von ihnen geführten Maschine beurteilen und vorbeugende Maßnahmen zum langfristigen Erhalt der Funktionsfähigkeit treffen. Voraussetzung sind qualifizierte und motivierte Mitarbeiter, die eigenverantwortlich und selbstständig handeln. Hier ist die Reduktion von Muri maximal.
Fazit
Muri, Überlastung, bei Mensch und Maschine kann unter anderem auf Mura, mangelhafter Abstimmung, beruhen und verschiedene Arten von Muda, Verschwendung, verursachen. Die Folgen der Überlastung können gravierend sein. Beim Menschen sind sowohl psychische als auch physische Schäden durch hohe Dauerbeanspruchungen möglich. Bei Geräten und Anlagen führt Muri zu übermäßigem Verschleiß und Ausfällen.
Vermieden werden kann Muri bereits in Planungs- und Entwicklungsphasen durch eine vorausschauend aufeinander abgestimmte Organisation von Abläufen und das Layout der Arbeitsumgebung. Bestehende Arbeitsplätze und Vorgehensweisen können ergonomisch gestaltet werden. Prozesse sind möglichst zu vereinfachen und zu entzerren, um Arbeitsspitzen zu vermeiden.
Die Mitarbeiter selbst können viel zur Vermeidung von Muri beitragen, wenn sie den Lean-Ansatz umsetzen. Dazu sind Fort- und Weiterbildungen nötig – und Führungskräfte, die diesen Gedanken mittragen und auf ein motiviertes Team setzen, das in seinem Verantwortungsbereich selbstständig und eigenverantwortlich reagieren kann.
Auf technischer Ebene kann die Total Productive Maintenance durch ein mindestens präventives Instandhaltungsmanagement Störungen, Stillstände und Ausfälle verhindern. Die verlängerten Laufzeiten der Anlagen verringern belastende Arbeitsspitzen und führen zu einer gleichmäßigeren Produktion – Muri nimmt ab.
Die Organisation und Abstimmung von Prozessen (Mura) reduziert die Überlastung (Muri). So kann der Verschwendung (Muda) vorgebeugt werden. Maßnahmen im Bereich Mura und Muri sollten daher denen zur Reduktion von Muda immer vorangehen.